Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
Verdächtige auszusortieren.«
»Wir gehen also davon aus, dass er tatsächlich dort arbeitet«, stellte Radick fest.
»Das tun wir«, erwiderte Parrish. »Es ergibt Sinn. Zu viel Sinn, um einfach darüber hinwegsehen zu können.«
37
Valderas sträubte sich nicht dagegen, die Suche nach der vermissten Melissa Schaeffer wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Auch versprach er Parrish, die anderen Detectives zu informieren. Sie alle hatten an dem einen oder anderen Fall gearbeitet, und das Letzte, das er haben wollte, war ein interner Machtkampf.
»Ich übertrage Ihnen sämtliche Fälle«, erklärte er. »Und ich erkläre den anderen, dass sie einen Vermerk in ihren Akten bekommen, der bestätigt, dass ihnen die Fälle nicht wegen mangelnder Gewissenhaftigkeit entzogen wurden, sondern weil neue Informationen ans Licht gekommen sind und ihre sonstige Arbeitsbelastung zu hoch war, um sie die Fälle neu aufrollen zu lassen. Das dürfte sie beruhigen. Ich versuche, eine neue Fahndung nach Melissa Schaeffer einleiten zu lassen; das Ganze wird sich allerdings wohl darauf beschränken, dass ein paar Uniformierte noch einmal die Gegend abklappern, in der sie gewohnt hat. Wann verschwand das Mädchen?«
»Im Oktober 2006«, erwiderte Parrish.
»Da wird nichts passieren, oder?«, stellte Valderas fest. »Ich meine, es ist schon verdammt unwahrscheinlich, dass nach zwei Jahren plötzlich irgendwas aus der Versenkung auftaucht.«
»Ich weiß, ich weiß, aber Teufel auch, wir müssen es versuchen, oder?«, sagte Parrish. »Vielleicht ist jemand, der damals etwas wusste, nicht mehr mit den Leuten hier verbunden, sodass er jetzt ohne Angst vor direkten Repressalien aussagen kann. Das habe ich alles schon erlebt.«
»Überlassen Sie das mir. Was wollen Sie als Nächstes unternehmen?«
»Ich kümmere mich um die Telefondaten, soweit wir sie bekommen können. Höchstwahrscheinlich laufen wir damit in die nächste Sackgasse, aber man kann ja nie wissen. Wenn wir nicht suchen, finden wir auch nichts, oder?«
»Halten Sie mich auf dem Laufenden«, sagte Valderas.
Parrish setzte sich an seinen Schreibtisch. Er zog die Akten aus der untersten Schublade und breitete sie vor sich aus. Jetzt gab es keinen Grund mehr, sie zu verstecken. Die einzige fehlende Akte war die von Detective Franco in Williamsburg, und jetzt fiel es ihm auf: Karen stammte aus Williamsburg, und Rebecca hatte dort gelebt, seit sie bei Helen Jarvis wohnte. Natürlich hatte er das längst gewusst, doch erst in diesem Augenblick fragte er sich, ob es irgendwie von Bedeutung war. Es konnte sich um einen Hinweis handeln, dem zu folgen sich möglicherweise lohnte, aber keinen besonders dringlichen Hinweis. Bisher deutete nichts auf eine Verbindung zu Williamsburg hin, während es im Fall von Family Welfare South Two durchaus wahrscheinlich war, dass der Mann, den sie suchten, unter den achtundvierzig Angestellten zu finden war.
Parrish glaubte, dass Momente wie dieser – jetzt hier an seinem Schreibtisch, die Gesichter der toten Mädchen einmal mehr vor ihm – letztendlich sein Leben ausmachen würden. Immer würden Menschen getötet werden, und immer würde es andere Menschen geben, die dafür verantwortlich waren. Parrish glaubte, dass die Angst vor dem Sterben jedem innewohnte, von Natur aus und unausweichlich. Diejenigen, die behaupteten, sie hätten keine Angst, waren bloß ängstlicher, diese Furcht zu zeigen. Wie ein Virus – subtil, schleichend, beinahe sanft – sickerte diese Angst in Menschen wie ihn ein. In diejenigen, die den Toten in den Stunden nach ihrem Sterben begegneten. Trotz des Abstands, trotz der Latexhandschuhe wurde dieses sanfte Virus durch die Tränenkanäle absorbiert, durch die Poren der Haut, den Atem. Und dann machte es sich ans Werk. Zuallererst begann es, die persönlichen Dinge zu infizieren. Die Fähigkeit, über das zu sprechen, was man gesehen hatte, starb dabei als Erstes. Über die emotionale Transparenz legten sich Wolken. Und dann starben die Hoffnung, der Glaube an eine fundamentale und universelle Gerechtigkeit und die Gewissheit, dass sich am Ende alles zum Guten wenden würde. Und schließlich tötete das Virus auch Liebe und Leidenschaft – Beziehungen, Mitgefühl, Verbundenheit, Brüderlichkeit. War es nicht so, dass wir mit dem Moment der Geburt bereits zu sterben begannen? Eine Arbeit, wie Parrish sie tat, beschleunigte eigentlich nur einen Prozess, der so natürlich war wie das Atmen. Wenn alles gesagt und
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