Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
und in den meisten Fällen auch, wann sie töten. Mondzyklen, Herbstmonde, alle sieben Sonntage oder was auch immer. Dann kriecht ihnen diese neue Idee wieder unter die Haut. Dieses Prinzip der menschlichen Ausnahmeerfahrung beruht auf der Grundannahme, dass jeder Serienmörder die ganze Zeit über versucht, sich selbst von weiteren Taten abzuhalten. Wie der Alkoholiker, der mit dem Trinken aufhören will, oder der Kleptomane, der nicht mehr stehlen will. Es geht um dieses tief verwurzelte Wissen, dass das, was man tut, falsch ist, und um den Kampf, der im Inneren dieser Person tobt. Die Theorie der menschlichen Ausnahmeerfahrung besagt einfach, dass im Leben des Betreffenden etwas geschieht, das ihn über die Klippe der Selbstkontrolle stößt. Es verleiht dem Impuls zu töten, eine solche Macht, dass das Individuum ihm einfach nicht widerstehen kann. Die Entscheidungsfreiheit wird komplett außer Kraft gesetzt, und in diesem Moment ziehen die Täter los und suchen sich ein neues Opfer. Der Drang ist von außen angestoßen worden, und sie ergreifen die Gelegenheit. Die ursprüngliche situative Dynamik hilft ihnen dabei, ihre Taten zu rationalisieren. Mit Schuldgefühlen müssen sie sich erst nach der Tat herumschlagen, und dann ist es zu spät. Wieder ist ein Mensch tot. So könnte es möglicherweise auch mit deinem Typen ablaufen. Es gibt kein festes Muster. Er hält sich einfach zurück, so lange er kann, und dann explodiert er. Das ist zumindest eine Möglichkeit. Trotzdem glaube ich einfach, dass in diesem speziellen Fall noch weitere Mädchen ermordet wurden, die ihr noch nicht als Teil der Serie erkannt habt. Immerhin verschwinden in den Vereinigten Staaten jährlich eine Dreiviertelmillion Kinder, von denen wir nur einen deprimierend geringen Prozentsatz wiederfinden.«
»Das will ich mir gar nicht anhören.«
»Hör es dir an. Komm damit klar. Das ist die Realität, mein Freund. Dir muss ich das doch nicht erklären.«
»Und was soll ich jetzt tun? Wie gehe ich weiter vor?«
Ron lächelte. »Erzähl mir erst einmal, was du mir nicht erzählt hast.«
»Es gibt nichts, das ich dir nicht erzähle«, erwiderte Parrish. Er spürte, wie der Knoten in seinen Eingeweiden sich zusammenzog.
Ron hob seine Kaffeetasse und trank sie aus. Er machte Anstalten aufzustehen.
»Was hast du vor?«
»Ich gehe, Frank, was, zum Teufel, glaubst du denn? Du bittest mich um ein Treffen, ich komme her. Du willst mir etwas erzählen, ich höre dir zu. Ich bitte dich, mir alles zu sagen, und du verarschst mich. Du und ich haben vor vier Jahren etwas Gutes durchgezogen, und du hast mir aus der Klemme geholfen. Gut, vielleicht sind wir nicht exakt nach den Regeln vorgegangen, aber wir haben es geschafft und den Typen festgenagelt. Damals haben wir beide gesagt, dass keiner dem anderen etwas schuldet. Darauf haben wir uns geeinigt. Keine Restschuld, keine Verpflichtungen, nichts. Ich bin nur hier, um etwas für meine Gesundheit zu tun. Alles bleibt inoffiziell. Das FBI schuldet dem NYPD nichts. Und umgekehrt. Wenn wir zusammenarbeiten, dann nur weil wir es wollen, nicht weil wir müssen. Ich habe hier gesessen und dir zugehört, und jetzt sind wir fertig, und ich gehe nach Hause.«
Parrish blickte zu Ron auf. »Ich glaube, ich weiß, wen er als Nächstes im Visier hat.«
Ron hielt einen Moment inne, dann ließ er sich schwer auf seinen Platz fallen. »Und jetzt wirst du mir sagen, dass du der Einzige bist, der das weiß, und dass die Art und Weise, wie du an diese Information gekommen bist, zu deiner Suspendierung oder sogar Entlassung führen könnte.«
»Mein Gehalt ist schon gekürzt worden«, erwiderte Parrish. »Ich habe keinen Führerschein. Sie kreisen über mir wie die Geier. Ein Fehler, und ich werde mit einem Tritt vor die Tür gesetzt. Dann ist es billiger. Sie können sich die Abfindung oder Pension sparen.«
»Mein Gott, Frank, was ist dein Problem?«
Parrish lächelte sarkastisch. »Wenn ich das wüsste, würde ich es vermarkten, weil jeder ein Stück davon möchte.«
»Was hast du getan?«
»Ich habe irgendwo gesucht, wo ich nicht suchen durfte.«
»Und was hast du gefunden?«
»Die Akte eines Mädchens, das so aussieht wie die anderen.«
»Und sie ist einer seiner Fälle?«
»Nein.«
»In seinem Haus?«
»In seinem Auto.«
Ron atmete tief ein und seufzte. »Scheiße«, entfuhr es ihm, und in diesem einen Wort lagen so viel Überzeugung und Nachdruck, dass es Parrish wie ein körperlicher Schlag
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