Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
werden, dass man gerade ein Leben ausgelöscht hat.«
»Und so etwas würde der Mörder tatsächlich tun?«
»Auf jeden Fall. Diese Typen bleiben so lange wie möglich bei ihren Opfern, bis zu dem Punkt, an dem beim besten Willen nicht mehr zu übersehen ist, dass sie tot sind. Die Opfer werden steif, sie beginnen zu verwesen, und dann sind sie nicht mehr so goldige Schätzchen und müssen verschwinden. Oh, und die Tatsache, dass er mindestens eine von ihnen mit einem Schal erdrosselt hat, deutet auf ein Bedürfnis hin, so sanft wie möglich vorzugehen. Außerdem erspart es ihm die körperliche Realität des Tötens; schließlich ist es nicht nötig, dass er in dem Moment, wo das Opfer stirbt, körperlichen Kontakt mit ihm hat.«
Parrish nickte. Er hätte gern noch einen Kaffee bestellt, wollte aber den Fluss der Erklärungen nicht unterbrechen.
»Ich vermute, wenn es dir gelänge, einen Blick ins Haus dieses Typen zu werfen – angenommen, es handelt sich wirklich um den Mörder –, dann würdest du ein ungewöhnlich organisiertes und makelloses Zuhause vorfinden. Hier reden wir von der Sorte Mensch, die sämtliche Konservendosen alphabetisch und nach Haltbarkeitsdatum sortiert in den Schrank stellt.« Ron lächelte trocken. »Aber natürlich wirst du keine Gelegenheit haben, einen Blick in sein Haus zu werfen, Frank, oder?«
Parrish schüttelte den Kopf. »So wie es im Moment läuft, sehe ich keine Chance, dass wir irgendetwas näher unter die Lupe nehmen können. Er hat uns lahmgelegt, Ron, richtig lahmgelegt, und kein Indiz, über das wir verfügen, ist überzeugend genug, um eine Durchsuchung, eine Beschlagnahme oder auch nur eine weitere Befragung rechtfertigen zu können.«
»Du weißt doch, wo er wohnt. Besuche ihn zu Hause. Erzähl ihm, dass du ihm noch einmal sagen wolltest, wie sehr er euch geholfen hat und wie dankbar du bist, dass er seine Zeit geopfert hat. Sag ihm, du wolltest dich entschuldigen, falls er sich auch nur im Geringsten belästigt gefühlt hat.«
»Darüber habe ich schon nachgedacht, aber ich möchte mich eigentlich nicht verraten, und ganz sicher will ich nicht, dass er seine Pläne hinauszögert.«
»Dann sitzt du sprichwörtlich zwischen den Stühlen«, stellte Ron fest. »Den Kerl verfolgen und damit jede Chance auf eine Verurteilung zunichtemachen? Oder warten, bis er etwas unternimmt und dabei ein weiteres Opfer riskieren?«
»Genau.«
»Eine Sache verwirrt mich, und das ist der zeitliche Ablauf. Wiederhol das noch mal.«
»Das erste Opfer, jedenfalls das erste, das wir mit diesem Muster in Verbindung bringen, datiert auf den Oktober 2006.«
»Du meinst das Baumann-Mädchen, von dem ihr dieses Foto entdeckt habt?«
»Nein, die Erste war Melissa Schaeffer, die wir in der Mülltonne gefunden haben. Jennifer Baumann war die Zweite, und sie starb im Januar 2007. Die Dritte dann im August, die Vierte im Dezember, und dann dauerte es neun Monate bis zu Rebecca Lange Anfang dieses Monats …«
»Und schließlich das letzte Opfer vor zehn Tagen, in der Kiste hinter dem Brooklyn Hospital.«
»Ja, genau.«
Nach kurzem Schweigen beugte Ron sich vor. »Ich schätze, du hast ein paar übersehen, Frank. Nicht du persönlich, aber ich glaube nicht, dass ihr schon alle Opfer gefunden habt. Das Muster ergibt keinen Sinn. Drei Monate zwischen dem ersten und dem zweiten Opfer, dann sieben Monate, dann vier Monate, dann neun Monate und plötzlich eine Woche?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich vermute, dass es außerhalb der Jugendamtsverbindung noch weitere Leichen gibt. Die andere Möglichkeit wäre, dass ihr es mit einem Zyklus ohne vorherige Festlegung zu tun habt.«
»Und das heißt?«
»Situative Dynamik, Frank. Situative Dynamik und etwas, mit dem die Profiler sich im Moment beschäftigen, das sie menschliche Ausnahmeerfahrung nennen.«
Parrish runzelte die Stirn.
»Das ist nicht weiter kompliziert. Situative Dynamik sagt dir etwas. Einfach die Einflüsse von äußeren, familiären, sozialen und bildungsbedingten Faktoren, die dich zu der Person formen, die du bist. Da lassen sich Muster erkennen. Körperliche oder sexuelle Misshandlung durch Eltern und Verwandte, soziale Entfremdung, ein totaler Zusammenbruch des Selbstwertgefühls. Solche Leute fangen mit Tierquälerei an, gehen dann zu Brandstiftung über, später zu Brandstiftung plus Totschlag und schließlich zu Mord. Manche dieser Täter tragen ein spezielles Muster in sich, das sich darin äußern kann, wen sie töten,
Weitere Kostenlose Bücher