Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
Lernschwester konnte eigentlich überall im Gebäude unterwegs sein, erklärte sie Parrish. Ob er wollte, dass sie die Schwester ausrufen ließ? War es wichtig?
»Sir?«, hakte sie nach, als Parrish einfach vor sich hinstarrte, ohne ihre Frage zu beantworten.
Er wandte sich ihr wieder zu und schüttelte den Kopf. »Nicht so wichtig, dass sie bei der Arbeit gestört werden sollte.«
»Möchten Sie ihr eine Nachricht hinterlassen?«
»Ja, eine Nachricht. Sagen Sie ihr bitte, dass ihr Dad hier war. Dass er sich für alles entschuldigen will und dass er sie liebt.«
Die Rezeptionistin lächelte. »Ich sorge dafür, dass sie die Nachricht erhält, Sir.«
Parrish verließ das Krankenhaus. Er fuhr nach Hause, stellte den Wagen in der Nähe ab und brachte eine Stunde damit zu, Sandwichs zu bestreichen und eine Thermosflasche Kaffee zu kochen. Außerdem suchte er ein paar Musikkassetten von Tom Waits, Gil Scott-Heron und Kelly Burrell zusammen und stopfte alles in eine Reisetasche. Er legte Hemd und Krawatte ab und zog ein einfaches dunkles Sweatshirt, eine weite Jacke und eine Jeans an. Schließlich nahm er eine Taschenlampe, seine Schlüssel, einen nicht registrierten Revolver Kaliber .32, den er vor Jahren bei einer Verhaftung eingesteckt hatte. Ehe er die Wohnung verließ, warf er an der Tür einen Blick zurück auf die Zimmer, denen jede persönliche Note zu fehlen schien. Hätte er dort nicht gelebt, hätte er wahrscheinlich auf eine leer stehende Wohnung getippt, die auf neue Mieter wartete. Er, Frank Parrish, war mit seinem Beruf verschmolzen. Sein Leben wurde von toten Fremden bestimmt. Traurig, aber wahr.
Er schloss die Tür hinter sich und trat hinaus auf die Straße.
75
»Er muss es wissen, Caitlin. Ernsthaft.«
Caitlin Parrish, die in der Kantine des University Hospitals saß, schüttelte langsam den Kopf.
»Noch nicht«, sagte sie. »Er muss noch ein bisschen leiden. Er muss mich richtig, richtig vermissen, und dann wird er mir alles verzeihen.« Sie lächelte neckisch.
Jimmy Radick lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Du bist eine böse Tochter«, sagte er.
»Ich kenne ihn, Jimmy, glaub mir. Er kann sehr besitzergreifend sein, fast schon eifersüchtig. Damit hat auch Mom ihre Erfahrungen gemacht. Er hatte sogar Probleme damit, wie mein Großvater mit ihr sprach.«
»Wie alt warst du, als er starb?«
»Grandpa John? Wann war das … hm … 1992 … Ich war, lass mich rechnen, vier, viereinhalb.«
»Und woher willst du wissen, was dein Vater über deinen Großvater dachte, wenn du erst viereinhalb Jahre alt warst?«
»Weil wir Frauen eine übersinnliche Wahrnehmung besitzen, wenn es um solche Dinge geht.« Sie lächelte. »Weil meine Mom es mir erzählt hat, deswegen.«
»Aber das ist nur der Blickwinkel deiner Mutter, Caitlin. Es gibt immer zwei Seiten.«
»Hör zu, Jimmy, etwas musst du begreifen: Wenn es nach meinem Vater geht, ist meine Mutter die schlimmste Zicke der Welt. Er will, dass man sie so sieht, damit man ihm verzeiht, dass er sich ihr gegenüber wie ein Arsch benommen hat. Er war nie zu Hause, hat nur gearbeitet …«
»Du weißt doch, wie es ist. Bei dir wird es genauso sein, wenn du als Vollzeit-Krankenschwester arbeitest.«
»Es ging nicht um die Schichten, Jimmy. Es ging um gebrochene Versprechen. Egal, wir sind ja nicht hier, um über die kaputte Beziehung meine Eltern zu reden, sondern über uns.«
»Ja, und ich denke, Frank sollte Bescheid wissen. Dieses Versteckspiel, diese Treffen, wenn wir wissen, dass er dich nicht besuchen kommt. Er ist mein Partner, verdammt.«
»Und ihr habt gerade angefangen zusammenzuarbeiten, und du und ich sind gerade erst zusammengekommen. Und beide Beziehungen sollen sich erst ein bisschen einspielen, ehe wir anfangen, alle in Aufregung zu versetzen.«
»Du denkst, er wird sich aufregen?«
»Ich denke, er wird sich Sorgen machen.«
»Wegen unseres Altersunterschieds?«
»Ich bin zwanzig, du neunundzwanzig. Wenn du sechzig bist, bin ich einundfünfzig, das macht nicht viel aus. Nein. Es ist nicht das Alter, mit dem er Probleme haben wird. Es ist die Tatsache, dass du Polizist bist.«
»Aber das ist er auch.«
»Genau! Er will nicht, dass so etwas, was zwischen ihm und Mom geschehen ist, auch seiner Tochter passiert. Das ist Unsinn, aber so denkt er eben. Früher hat er mir Vorträge darüber gehalten – na ja, vielleicht ist Vorträge ein bisschen übertrieben –, und einmal musste ich ihm sogar versprechen,
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