Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
mein Bruder ist jedenfalls eher ein Künstlertyp. Er studiert Ingenieurwissenschaften, aber ich schätze, dass er mal Grafikdesigner oder Innenarchitekt oder so was wird. Ich meine, er ist nicht schwul oder so – nicht dass ich ein Problem damit hätte, wenn es so wäre –, aber er läuft nicht gerade durch die Gegend und reißt Bäume aus oder stemmt LKWs.«
Wieder bewegte sich Radick ein Stück. Er zog sein Bein nach oben, bis er die Wärme zwischen Caitlins Schenkeln spürte. Dann streckte er die Hand aus und strich ihr eine Locke aus dem Gesicht.
»Ich tue mich schwer mit dem Gedanken, dass dein Vater sich unzulänglich fühlen könnte«, sagte er.
»Warum?«
»Weil er bei allem, was er tut, so sicher wirkt. Diese Arbeit ist nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte … nicht genau jedenfalls …«
»Wie meinst du das?«
»Sie ist langsamer. Sie ist methodischer. Es gibt so viel Warten und Schauen und noch mehr Warten. Ich hatte mir ausgemalt, dass alles ein bisschen schneller abläuft.«
»Du willst Starsky & Hutch spielen, stimmt’s?«
Radick lächelte. »In dem Job geht es um Geduld und Hartnäckigkeit, um die Fähigkeit, sich nicht frustrieren zu lassen, wenn man nicht bekommt, was man möchte.«
»Das hat Dad mir auch erklärt«, erwiderte Caitlin. »Er sagte, er hätte einmal vierzehn Monate lang an einem Fall gearbeitet. Er hatte einen erstklassigen Zeugen, jemanden, der bereit war, vor Gericht auszupacken. Er hatte Abhörprotokolle und Durchsuchungen und hieb- und stichfeste Beweise gegen jemanden, der des mehrfachen Mordes verdächtigt wurde und wahrscheinlich zu zweihundertfünfzig Jahren oder so was verurteilt worden wäre, wenn er nicht einen Schlaganfall erlitten hätte und sechsunddreißig Stunden vor der geplanten Verhaftung gestorben wäre. Dad sagte, dass es viele solche Fälle gäbe – nicht dass der Delinquent immer stirbt, aber dass es zur irgendwelchen Pannen oder Verfahrensfehlern kommt, die eine Anklage zunichtemachen.«
»Du hast Delinquent gesagt.«
»Ja, ein Delinquent. Du weißt doch, was ein Delinquent ist, oder?«
Radick lachte. »Eine Polizistentochter. Hier liege ich im Bett mit einer Polizistentochter, und wir reden übers Verhaften von Delinquenten.«
Caitlin lächelte. Sie wand sich unter Jimmy heraus und setzte sich auf die Bettkante. »Willst du einen Kaffee?«, fragte sie.
»Klar«, sagte er.
Einen Moment zögerte sie, dann schaute sie Radick über die Schulter an.
»Glaubst du, dass er zurechtkommt?«, fragte sie schließlich.
»Ob er zurechtkommt? Wie meinst du das?«
»Dass er bei diesen Ermittlungen keine Dummheiten macht? Bei diesem Typen, auf den er sich eingeschossen hat?«
Radick schüttelte den Kopf. »Frank? Nein, das glaube ich nicht. Er weiß, wie wenig noch fehlt, dass sie ihn entlassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er irgendetwas tut, womit er seinen Job riskiert.«
Caitlin nickte und erhob sich.
»Du hast recht«, sagte sie. »Den würde er nicht aufs Spiel setzen, oder? Er hat Mom verloren, er hat irgendwie auch mich und Robert ein Stück verloren, aber, verdammt, auch als das noch nicht so war, kamen wir immer an zweiter Stelle.«
Einen Moment wirkte sie nachdenklich, dann lächelte sie. »Er ist ein Cop, sonst nichts. Das ist nichts Schlimmes, er ist eben so. Wenn er seinen Job nicht mehr hätte, gäbe es für ihn wahrscheinlich keinen Grund mehr, morgens aus dem Bett zu steigen.«
Radick sah ihr nach, als sie das Schlafzimmer verließ. Sie sah großartig aus. Das bestaussehende Mädchen, mit dem er je zusammen gewesen war. Sie war ein Hauptgewinn, kein Zweifel. Absolut einzigartig.
Lächelnd drehte er sich um. Er hoffte, dass es Frank gut ging. Ein Wochenende allein. Er hoffte, Frank würde die Finger vom Alkohol lassen, wenn er zu Hause saß und seine Gedanken um Richard McKee und die toten Teenager kreisten. Radick respektierte den Mann, ohne Frage. Aber auch wenn er ihn respektierte, würde er alles tun, um nicht so zu werden wie er. Manche Dinge bewunderte man besser aus der Distanz, statt sie sich zum Vorbild zu nehmen.
Er hörte, wie Caitlin in seiner Küche Kaffee machte, und überlegte kurz, ob er Frank auf dem Handy anrufen sollte. Vielleicht später. Nur um zu hören, ob alles in Ordnung war. Nur um zu hören, dass er nichts Verrücktes vorhatte.
79
Es handelte sich ganz offensichtlich um das Haus eines alleinstehenden Mannes. Der Kühlschrank war spärlich bestückt, was auch für die Küchenschränke und
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