Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
hatte, nachgedacht und war zu dem Ergebnis gekommen, dass er sich grundlegend verändert hatte. Diese Einschätzung gab ihrer ohnehin vorhandenen Sorge um das Wohl ihrer Tochter neue Nahrung.
Sarah war vierzehn Jahre alt. Sie war dabei, eine Frau zu werden. Sie war hübsch, blond und strahlend, und sie vertraute ihrem Vater ohne Einschränkung. Richard hatte ihr auch nie Anlass zu etwas anderem gegeben. Carole vermutete allerdings, dass Richard finstere Gedanken bezüglich Sarah hegte – jene Art Gedanken, die erwachsene Männer niemals für Teenager hegen sollten, vor allem nicht für ihre eigenen Töchter. Carole spürte eine Aura des Bösen, die ihren Mann umgab. Sie fühlte diese Aura und vertraute ihren Instinkten. Die Bösartigkeit richtete sich gegen ihre Person, und das nicht nur, weil sie sich hatte scheiden lassen, sondern auch, weil sie diejenige war, die Sarah seiner Kontrolle entzogen hatte. Sie war die Mutter, und wie in den meisten Fällen hatten die Gerichte ihr nicht nur das Sorgerecht zuerkannt, sondern Richard auch zur Zahlung von Unterhalt verpflichtet. In Richards Gedankenwelt bedeutete das nichts anderes, als dass die Richter sie für verlässlicher, anständiger, ehrlicher und den besseren Elternteil hielten. Und das nahm er seiner Exfrau übel. Carole war davon überzeugt, dass es Richard nicht das Geringste ausmachen würde, wenn ihr etwas zustieße. Er würde nie etwas direkt gegen sie unternehmen, dazu war er zu feige. Aber wenn sie von der Bildfläche verschwände, wäre es ihm sicher nur allzu recht. Nach der Scheidung hatte sie versucht, sich wieder ein positiveres Bild von ihm zu machen, doch es wollte ihr einfach nicht gelingen. Die Begegnungen mit Frank Parrish hatten alles wieder wachgerufen, was ihr an ihrem Exmann missfiel, und am meisten missfiel ihr, dass er immer noch Kontakt zu den Kindern hatte.
Um halb zehn Uhr an diesem Vormittag kam sie zu dem Entschluss, dass es nur einen Weg gab, ihre Befürchtungen zu zerstreuen, nämlich den, in sein Haus einzudringen. Sie besaß einen Schlüssel. Den hatte sie immer besessen – das war einer der Punkte, auf die sie bestanden hatte, als die Besuchsregelungen endgültig festgelegt worden waren. Jeder von ihnen besaß für Notfälle einen Schlüssel zum Haus des anderen. Sie waren immer noch gemeinsam Eltern, und trotz der Scheidung, trotz der Feindseligkeit und Verbitterung, trotz allem, was zwischen ihnen geschehen war und noch geschehen würde, blieben Alex und Sarah der wichtigste Aspekt in ihren Überlegungen.
Richard war mit ihnen zu einer Tagestour aufgebrochen. So viel wusste sie. Er würde mit ihnen in eine Mall fahren, ins Kino, in ein Restaurant. Das hatte er ihnen letzte Woche versprochen. Er besaß mehr Geld als Carole und überschüttete die Kinder mit Geschenken. Er versuchte, sich ihre Zuneigung zu erkaufen. Alex und Sarah sahen das nicht so. Sie betrachteten ihn als liebevollen Vater. Ab und an bearbeitete er die beiden subtil, indem er anklingen ließ, dass es so, wie jetzt die Wochenenden verliefen, die ganze Zeit über sein könnte, falls sie irgendwann bei ihm einzögen. Sie waren noch zu jung, um zu begreifen, was für ein Arschloch er war, und auch wenn sie nicht daran zweifelte, dass Alex und Sarah sie liebten, gerieten sie bisweilen in Versuchung. In Caroles Augen allerdings hatte sich Richard für die dunkle Seite entschieden, und auf dieser dunklen Seite würde er für immer bleiben.
Ehe sie aufbrach, malte sie sich aus, was passieren würde, wenn er sie in seinem Haus überraschte. Wenn sie nun frühzeitig zurückkehrten, weil sie zum Beispiel etwas vergessen hatten? Was würde sie sagen? Sie ging hinauf in Sarahs Zimmer und entdeckte ihren iPod. Ständig vergaß sie ihn. Okay, also benutzte ihre Tochter ihn im Moment nicht mehr so häufig, doch es war noch nicht lange her, da hätte man sie niemals ohne ihn angetroffen. Ich habe bloß Sarahs iPod vorbeigebracht. Ich dachte, sie bräuchte ihn vielleicht. Das würde genügen. Es war besser als nichts.
Carole Paretski nahm ihre Handtasche, ihre Schlüssel, ihre Jacke und verließ das Haus. Eine gute halbstündige Autofahrt in südwestlicher Richtung stand ihr bevor, den ganzen Weg von der Steuben Street die Washington Avenue, die Flatbush Avenue und schließlich die 4th Street hinunter. Wegen des Samstags war der Verkehr nicht so dicht wie sonst, sodass sie den Gowanus Canal kurz vor zehn Uhr überquerte. Sie war nervös, sogar ängstlich, doch es gab eine
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