Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
Garanten der Gerechtigkeit oder einen kompromisslosen Verfechter des Gesetzes, doch während seiner Dienstjahre hatte es immer wieder Fälle gegeben, die er durch pures Stehvermögen und einen unerschütterlichen Glauben an seine Aufgabe gelöst hatte. Und das hatte grundsätzlich immer gegolten, wenn Kinder im Spiel waren. Er war schon lange zu der Überzeugung gelangt, dass bei Verbrechen an Kindern keine Gründe und keine Entschuldigungen zählen konnten. Und auch wenn weder Rebecca noch Karen im eigentlichen Sinne mehr Kinder gewesen waren, so doch immerhin jung genug, um auf die unsichtbaren Gruben und Fallstricke nicht gefasst gewesen zu sein. Die dunklen Mächte der Stadt hatten sich ans Werk gemacht, und die beiden Mädchen waren zu naiv, zu unschuldig gewesen, um sie zu bemerken. Und wenn nicht Frank Parrish sich darum kümmerte, wer dann?
Er trug ständig ein Notizbuch bei sich, in dem er manchmal festhielt, was ihm durch den Kopf schoss. Im Augenblick saß er in einem Café, drei oder vier Blocks südlich vom Revier, unten an der Schermerhorn Street, und kritzelte einen Satz aus einem Tom-Waits-Song in sein Büchlein. Es ging darum, dass es eigentlich keinen Teufel gab, sondern dass der Teufel in Wahrheit Gott war, wenn er sich betrunken hatte.
Parrish nippte an seinem Kaffee. Er wartete auf Jimmy Radick, mit dem er verabredet war. Er dachte an Rebecca, an Karen, und er gab sich große Mühe zu glauben, dass beide Todesfälle nichts miteinander zu tun hatten. Es gelang ihm jedoch nicht, sich etwas einzureden. In diesem Moment fasste er den Entschluss, Karens Eltern aufzusuchen.
Kurz nach halb zwölf tauchte Radick auf. Parrish erklärte ihm, was er vorhatte.
»Und Sie wollen wieder allein losziehen, stimmt’s?«
»Ich halte es für das Beste. Hier geht es um ein anderes Revier …«
»Wie hieß das Mädchen?«
»Karen Pulaski, P-U-L-A-S-K-I .«
»Und Sie halten es wirklich für wahrscheinlich, dass es eine Verbindung zu dem Lange-Mord gibt?«
Parrish schüttelte den Kopf. »Instinktiv würde ich Ja sagen. Aber realistisch betrachtet? Eher nicht. Überprüfen muss ich es so oder so. Sonst würde es die ganze Zeit an mir nagen.«
»Gut. Ich fahre dann zur Einsatzzentrale. Was soll ich Valderas erzählen?«
»Sagen Sie, Sie wüssten nicht, wo ich bin. Sagen Sie ihm, dass wir uns nachher treffen, dass wir mit unserer Schicht später anfangen und Sie bloß aufs Revier gekommen sind, um Papierkram zu erledigen oder so was.«
Radick erhob sich. »Rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen, okay?«
»Natürlich«, erwiderte Parrish.
Um zwölf Uhr mittags ließ Parrish Brooklyn hinter sich. Er ging ein Stück zu Fuß und nahm an der Nevis Street die U-Bahn. Zwischen Fulton und Clinton-Washington schaute er instinktiv nach links zu seiner Wohnung. Ihm rechts gegenüber saß eine Frau. Sie las Rettungsversuch für Piggy Sneed . Sie warf Parrish einen Blick zu, den dieser mit einem Lächeln erwiderte. Er öffnete den Mund, um eine Bemerkung über das Buch zu machen, doch ihr Gesichtsausdruck ließ ihn innehalten. Ich kenne Sie nicht. Wagen Sie es bloß nicht, mich anzusprechen. Sagen Sieein verdammtes Wort, und ich schreie so laut, dass Ihnen die Ohren abfallen.
Er fragte sich, wann sie sich derart verändert hatte. Die Welt. Aber hatte die Welt sich tatsächlich verändert? Oder lag es nur an seiner Wahrnehmung?
Nachdem er am Broadway ausgestiegen war, nahm er einen anderen Zug zur Myrtle Avenue. Er hatte sich die Adresse der Pulaskis an der Troutman Street gemerkt und fand das Haus mühelos. Es war ein dreistöckiges Brownstone-Haus ohne Fahrstuhl, das kalt und verlassen wirkte, so als stünde es leer. Trotzdem stieg er die Treppe zur Tür hoch und klopfte an.
Erst als er drinnen die Stimme hörte – Ich gehe schon! –, wurde ihm so richtig bewusst, was er im Begriff war zu tun.
Die Frau, die ihm öffnete, war dunkelhaarig und ungefähr eins dreiundsechzig bis eins fünfundsechzig groß. Sie hatte breite Schultern, eine schmale Taille und war mit einer Jogginghose, einem T-Shirt und einem weiten Wollpullover bekleidet. Sie trug Socken, aber keine Schuhe, und einen Moment lang stand sie einfach vor Parrish und betrachtete ihn wie einen lange verloren geglaubten Verwandten, der endlich heimgekehrt war.
»Polizei«, bemerkte sie schließlich sachlich.
Parrish nickte. Er hielt seine Brieftasche in der Hand und wollte seinen Dienstausweis vorzeigen, was aber offensichtlich nicht nötig
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