Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
zurück nach Brooklyn. Soweit er sich erinnern konnte, lag die Archivabteilung der Jugendämter des Bezirks New York drüben an der Manhattan Avenue. Er war nicht sicher, ob sie samstags überhaupt geöffnet hatten, aber für den Fall des Falles wollte er dort sein, ehe sie schlossen.
21
Die Büros der Archivabteilung waren geöffnet und würden erst um halb fünf Uhr am Nachmittag schließen. Der Zugang zu den von ihm gewünschten Unterlagen war schnell und problemlos zu organisieren. Er legte seinen Dienstausweis vor, erklärte, was er brauchte, und bekam die Unterlagen sowohl zu Karen Pulaski als auch zu Rebecca Lange ausgehändigt.
Karen hatte bei ihrer Geburt McDermott geheißen und war die Tochter unverheirateter Eltern. Der Vater war Opfer eines Unfalls mit Fahrerflucht geworden, als sie vier Jahre alt war; zwei Jahre später war ihre Mutter an einer Überdosis gestorben. Ungefähr zehn Monate später nahmen David und Elizabeth Pulaski – die seit drei Jahren bei der County Adoption Agency als adoptionswillig registriert waren – ihre neue Tochter in Empfang, eine aufsässige und schwierige Siebenjährige, die mit einem Rückstand von null zu zwei ins Leben gegangen war.
Im ersten halben Jahr hatten CAA und Jugendamt monatlich Kontrollbesuche durchgeführt, dann ein Jahr lang quartalsweise und schließlich einmal jährlich, wobei diese Besuche mehr und mehr zur Formalität geworden waren. Laut den in der Akte abgehefteten Berichten hatten Mr und Mrs Pulaski für ihre Adoptivtochter Bemerkenswertes geleistet. Karen war zu einem glücklichen, ausgeglichenen, sozial aktiven Mädchen geworden. Und so war sie geblieben, bis jemand sie mit einem Kabel erdrosselt und ihre Leiche in einen Container geworfen hatte.
Parrish wandte sich Rebecca zu. Aus einer Reihe von Notizen in den Unterlagen ging hervor, dass das Jugendamt sehr wohl über Helen Jarvis im Bilde gewesen war. Offenbar hatte man begriffen, dass sie es war, die sich um Rebecca kümmerte. Auf dem Papier war Danny der gesetzliche Vormund; in Wirklichkeit hatte er wenig mit dem Mädchen zu tun, bis sie anfing, ihn in Brooklyn zu besuchen.
Oberflächlich betrachtet schienen zwischen beiden Mädchen keinerlei Gemeinsamkeiten zu bestehen, abgesehen von der Tatsache, dass sie ihre Eltern früh verloren hatten und adoptiert worden waren – ganz offiziell in Karens Fall, inoffiziell bei Rebecca.
Beim Abgleich der beiden Akten entdeckte Parrish keine Übereinstimmungen im Hinblick auf die zuständigen Beamten oder deren Vorgesetzte, weder bei der CAA noch beim Jugendamt. Das eine Mädchen stammte aus South Brooklyn, das andere aus Williamsburg, doch CAA und Jugendamt kümmerten sich außerdem auch um Bedford-Stuyvesant und Ridgewood; die Zuständigkeit erstreckte sich in nordwestlicher Richtung bis Brooklyn Heights und südlich bis nach Gowanus und Red Hook. Falls eine Verbindung bestand, konnte Parrish sie jedenfalls nicht erkennen, was die von ihm entdeckten Ähnlichkeiten wiederum als Zufälle erscheinen ließ. Doch Zufälle behagten ihm nicht. Er hatte sich noch nie damit anfreunden können. Zufälle widersprachen Frank Parrishs natürlichem Sinn für Ordnung und Verlässlichkeit. Außerdem waren da der kurze Rock, das Neckholder-Top, die hochhackigen Schuhe und, in Rebeccas Fall, der Haarschnitt und der Nagellack. Wieder so ein Zufall – der Umstand, dass der Täter in beiden Fällen Spaß daran hatte, die Mädchen neu einzukleiden.
Was Parrish nun am meisten interessierte, war die Frage, ob es weitere vergleichbare Fälle gab. Vermisste Mädchen mit neuen Frisuren, lackierten Finger- und Zehennägeln, in Kleidung, die nicht zu ihrer üblichen Erscheinung passte. Mädchen, die bei der Ermittlungsroutine übersehen worden waren, weil man in ihnen nie etwas anderes als isolierte Fälle vermutet hatte. Es konnte gar nicht oft genug wiederholt werden: Beim ersten Mal geschah etwas, das zweite Mal war Zufall, beim dritten Mal steckte ein Plan dahinter.
Trotz der Möglichkeit, dass es sich wirklich um isolierte Fälle handelte, zusammenhanglos und völlig ohne jede Verbindung, fühlte Parrish sich von Rebeccas Gesicht verfolgt. Er sah seine eigene Tochter vor sich, als sie sechzehn Jahre alt gewesen war, und dieses simple Bild gemahnte ihn daran, dass auch Rebecca das Kind von jemandem war, und wenn nicht er nach den wahren Umständen ihres Todes forschte, wer sollte es dann tun? Danny? Danny war tot. Helen Jarvis? Wohl kaum …
Um vier Uhr saß er
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