Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
sei denn gegen Bezahlung. Sie haben mich nach meinem Vater gefragt; was für ein Mann er war. Es liegt auf der Hand, was er war. Ein Gauner. Keine Frage. Santos fing damals an, meinem Vater einen monatlichen Betrag zu zahlen, bloß ein paar Hundert Dollar, um die Versetzungen glatt durchgehen zu lassen. Mein Vater wurde informiert, welche Versetzungen für Santos wichtig waren, und er sorgte dafür, dass sie im Eiltempo erledigt wurden. Dieses Arrangement bestand, bis mein Vater 1972 beim Organized Crime Control Bureau anfing. Zu der Zeit gehörte der Flughafen zum Territorium des OCCB , und ganz oben auf der Liste der juristischen und operativen Prioritäten stand der Auftrag, dort gründlich aufzuräumen.«
»Was aber nicht passierte, nehme ich an?«
»Oh, auf ihre Art räumten sie auf, so viel ist sicher, und mein Vater, das Arschloch, war mittendrin. Allein in den zehn Monaten von Anfang ’67 bis Oktober verschwanden am JFK Waren im Wert von zwei Komma zwei Millionen. Diese Waren wurden aus Depots und Sicherheitsräumen des Luftfrachtzentrums gestohlen. Auch TWA verlor Material im Wert von zweieinhalb Millionen, und diese Zahlen enthalten noch nicht die Waren, die außerhalb des Flughafengeländes gekapert wurden. Glauben Sir mir, Doktor Marie, was am JFK gestohlen wurde, waren Peanuts verglichen mit dem, was sie sich aus den LKWs holten, die das Gelände verlassen hatten.«
»Sie sprechen von den Kaperungen und Übergaben?«
»Genau. Also: Eine der Schwierigkeiten, mit denen OCCB und Polizei damals zu kämpfen hatten, war der Umstand, dass in der Gesetzgebung des Staates New York Kaperungen nicht als schwere Straftat definiert waren. Falls tatsächlich mal jemand verhaftet wurde, musste man ihn wegen Raub oder Entführung anklagen, vielleicht auch wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz oder Mitführen von gestohlenen Gegenständen … etwas in der Art. Und weil Kaperungen von LKWs nicht im Gesetzbuch standen, gab es für diese Typen ein Schlupfloch. Sie hatten genug Geld, um sich die besten Anwälte leisten zu können, und sie schmierten die Gerichte, um Vernehmungen zu verschleppen und Anklagen zu verschieben. Ich habe von einem Fall gehört, der über elf Jahre hinweg zwischen den Gerichten und dem Büro des Staatsanwalts hin- und hergeschoben wurde. Als er endlich verhandelt wurde, kam der Angeklagte mit einer Geldbuße von zweihundertfünfzig Dollar davon.«
»Was uns zur Lufthansa führt.«
»Ja, allerdings, obwohl …«
»Obwohl Sie jetzt gehen müssen.«
»Ich fürchte, ja.«
»Na ja, wenigstens war es interessant, Frank.«
»Morgen. Morgen reden wir über die Lufthansa.«
»Morgen ist Sonntag.«
»Dann am Montag?«
»Am Montag.«
»Werden Sie es einen Tag ohne mich schaffen?«
»Vermutlich komme ich irgendwie zurecht, Frank.«
»Nun, Sie haben ja meine Akte. Irgendwo darin finden Sie bestimmt meine Telefonnummer. Wenn Sie jemandem zum Reden brauchen, rufen Sie mich einfach an, okay?«
»Das ist sehr großzügig von Ihnen.«
»Passen Sie auf sich auf.«
»Sie auch, Frank, Sie auch.«
20
Als hätte ein tollpatschiges Kind einzelne Teile zusammengefügt, schienen in seinem Leben und seiner Persönlichkeit breite Nahtstellen zu klaffen, die sich nicht rechtzeitig schließen wollten. Jedenfalls empfand Parrish es manchmal so.
Zu anderen Zeiten fühlte er sich von einem Ziel vorangetrieben – vor Energie strotzend und unerbittlich. Blut auf den Zähnen , nannten es die Skandinavier. Man nahm Witterung auf. Der Fall schien einen Haken auszuwerfen, der einen mitziehen wollte. Man zog dann seinerseits daran, und der Faden entwirrte sich wie ein Wollknäuel. Irgendwann in den Vierzigerjahren – so stellte es sich für Parrish jedenfalls dar – hatte jedoch eine Tendenz eingesetzt, die dazu führte, dass zwischen Gesetz und der Gerechtigkeit oftmals Welten lagen. Das Gesetz diente seinen eigenen Zwecken, und vor allem diente es den Anwälten. Gerechtigkeit, früher einmal ein günstig und schnell zu erlangendes Gut, wurde schwer zu bekommen und teuer. Sie wurde so rar wie ein besonders schöner Diamant. Die Leute lasen Romane, sie schauten Filme an und wünschten sich, dass es im Leben zuging wie in den Büchern und auf der Leinwand. Was nicht der Realität entsprach. Die Guten gewannen nicht zwangsläufig, und die Bösen blieben böse und auf freiem Fuß. Frank Parrish sah sich als Relikt einer aussterbenden Spezies. Jemand, dem nicht alles egal war. Er hielt sich nicht für einen
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