Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
Frank, Sie sollten nicht vergessen, in welcher speziellen Lage Sie sich befinden. Sie haben einen toten Partner, man hat Ihnen den Führerschein entzogen, Sie sind verpflichtet, bis auf Weiteres jeden Tag mit mir zu sprechen, und Ihr Gehalt wurde bis Ende des Jahres um ein Drittel gekürzt.«
»Dann ist es ja prima, dass ich umsonst zur Psychologin darf, oder?«
»Frank, ich glaube wirklich nicht, dass Sie sich diesen Sarkasmus leisten können …«
»Schauen Sie, Marie: Wenn ich den Kollegen etwas erzähle, wird alles offiziell. Diese alten Fälle werden dann auf mein Arbeitspensum draufgeschlagen. Wenn ich nichts erreiche, stehe ich am Ende mit fünf weiteren ungelösten Fällen da, und das macht sich nicht besonders gut. Wenn ich nichts sage und nichts erreiche, hat niemand ein Problem. Keiner verliert dadurch. Außerdem vermeide ich eine mögliche schlechte Stimmung bei den Kollegen.«
»Und falls Sie die Fälle lösen?«
»Na, dann hoffe ich doch, dass meine Kollegen Mordermittler selbstbewusst genug sein werden, um anzuerkennen, dass ein gelöster Fall wichtiger ist als die Frage, wer ihn wie gelöst hat.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass Ihre Vorgesetzten so denken, aber ich wäre mir nicht so sicher, ob Ihre Kollegen diese Sichtweise teilen.«
»Wir werden sehen. Die wichtigste Frage ist im Moment, ob sich in den Fällen etwas ergibt, ob eine Verbindung zwischen ihnen besteht.«
»Und Sie hoffen, dass es so ist?«
»Da haben Sie verdammt recht.«
»Damit Sie eine Belobigung erhalten?«
»Nein! Um Himmels willen, denken Sie wirklich, dass es mir darum geht?«
»Ich weiß nicht, um was es Ihnen geht, Frank. Deshalb frage ich ja.«
»Es geht um meinen Job. Es geht darum, weshalb ich Polizist bin. Denn es gibt verdammt wenig, das so wichtig ist, wie die Menschen zu stoppen, die solche Verbrechen begehen.«
»Das glauben Sie tatsächlich?«
»Aber sicher. Sie etwa nicht?«
»Hier geht es nicht um mich.«
»Natürlich glaube ich es. Wenn es nicht so wäre, würde ich diesen Job nicht machen. Ich hätte längst gekündigt, besonders nach dem ganzen Mist in der letzten Zeit.«
»Woran denken Sie da vor allem?«
»An alles. An meinen Partner … an all diesen Mist in den letzten sechs Monaten.«
»Sind Sie wütend darüber?«
»Ich bin nicht wütend, nein, ungläubig vielleicht. Es ist Unglaube und dieses Gefühl, das jeder erlebt, wenn …«
»Wenn was?«
»Wenn etwas passiert, so eine Sache. Dass man es im Kopf immer wieder durchgeht. Was hätte ich tun können? Was hätte geschehen müssen, damit es anders ausging? Wieder und wieder und wieder fragt man sich das.«
»Hat man Ihnen das Gefühl vermittelt, Sie wären verantwortlich für das, was Ihrem Partner zugestoßen ist?«
»Klar. Also, nein … das nicht. Nicht direkt. Ich war verantwortlich, wir beide waren es, aber das ist einfach unsere Arbeit. So ist der Job eben.«
»Aber die Menschen, die nach solchen Vorfällen die Verantwortlichkeiten klären sollen, sind selbst Polizisten. Das sind Menschen, die auch in der Schusslinie gestanden haben.«
»Natürlich haben sie das, ich weiß. Aber wenn man nicht selbst dabei ist, wenn man nicht genau in der Situation steckt, kann man sich kein Urteil bilden. Jede Situation ist anders, und niemand ist auf die Art von Entscheidungen vorbereitet, die man in solchen Momenten treffen muss.«
»Also tut man das, was man in der jeweiligen Lage für richtig hält.«
»Ja. Und dann blickt man zurück und bereut und büßt in aller Ruhe – wenn es vorbei ist.«
»Bereuen Sie die Entscheidung, ihn dort allein zurückgelassen zu haben?«
»Wie könnte ich das? Ich hatte keine Wahl, oder? Egal aus welchem Blickwinkel ich es betrachte, ich sehe nicht, wie die Sache anders hätte ausgehen können. Das ändert allerdings nichts daran, dass ich mein Leben lang darüber nachdenken werde. Zwei Dinge weiß ich allerdings sicher: Erstens sind wegen dem, was wir taten, zwei Menschen gestorben und vierunddreißig am Leben geblieben, und zweitens, was für mich noch viel wichtiger ist: Er hätte genauso gehandelt, wenn unsere Rollen umgekehrt verteilt gewesen wären.«
»Da sind Sie sicher?«
»Absolut.«
»Möchten Sie mir erzählen, was an dem Tag geschah?«
»Nein.«
»Warum?«
»Weil wir erst noch über die Lufthansa sprechen müssen. Wir sprechen über meinen Vater, und bevor wir damit fertig sind, möchte ich über nichts anderes reden.«
»Na gut. Dann fangen Sie an.«
»Das geht nicht. Es tut
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