Der Schrei des Löwen
auf der Straße leben zu müssen war ein grausames Schicksal. Der ehemalige Lehrer tat ihm leid.
»Ist das Mittelmeer denn wirklich so gefährlich?«, erkundigte er sich zaghaft.
»Fast so gefährlich wie die Sahara. Die meisten sterben in der Wüste. Sie verschwinden einfach im Sand und keiner sieht sie jemals wieder.«
»Dann nehmen wir eben eine andere Route«, schlug Yoba unbekümmert vor.
»Es gibt keine«, nuschelte Joseph, während er auf einem weiteren Knochen herumlutschte. »Wer von hier aus nach Europa will, muss durch die Wüste. Es ist der einzige Weg. Es sei denn, man nimmt ein Flugzeug. Aber da brauchst du einen Pass und ein gültiges Visum.«
»Dann werden mein Bruder und ich eben durch die Wüste gehen«, beschloss Yoba. »Andere haben es auch geschafft.«
Er tastete heimlich nach dem Gri-Gri, das Anthony ihm zum Abschied um den Hals gehängt hatte. Mit Hilfe des Zauberamuletts und mit dem gestohlenen Geld würden er und Chioke schon heil durch die Wüste kommen.
Langsam erhob sich die Sonne über den mit Stroh gedeckten Lehmhäusern. Die Stadt erwachte und eine stetig wachsende Zahl an Fahrzeugen und Menschen bevölkerte die sandigenStraßen. Die einheimischen Männer trugen knöchellange, weiße Kittel und weiße Käppchen auf dem Kopf. Frauen sah Yoba fast keine. Was ebenso fehlte, waren die Farben. Es gab keinerlei Grün, alles hatte die Farbe von Sand. Selbst die wenigen Bäume, deren vertrocknete Kronen hin und wieder zwischen den niedrigen Häusern emporragten, waren mit einer ockerfarbenen Sandschicht überzogen.
Yoba fragte sich, wie es erst werden würde, wenn sein Bruder und er noch weiter in den Norden kamen. Er zückte sein Notizbuch und schlug es auf. »Wohin müssen wir fahren, wenn wir die Wüste durchqueren wollen?«, fragte er Joseph.
Der Bettler zögerte, aber Yoba blieb hartnäckig und erinnerte ihn an ihre Vereinbarung. Endlich gab Joseph nach.
»Ihr müsst über die Grenze nach Agadez«, erklärte er widerwillig. »Von dort aus starten die Lastwagen durch die Sahara.«
Yoba notierte sich den Namen der Stadt. »Und wie ist die Grenze? Wird sie streng bewacht?«
»Kommt drauf an, ob ihr etwas habt, was ihr den Soldaten schenken könnt«, erwiderte Joseph. »Wenn ihr nichts habt, lassen sie euch erst gar nicht rüber.«
Das traf sich gut, dachte sich Yoba. Er hatte ohnehin geplant auf dem Markt neue Kleidung und Lebensmittel für die Weiterfahrt zu kaufen. Jetzt würde er eben ein bisschen mehr einkaufen, um die gierigen Grenzsoldaten zufriedenzustellen. Er entlockte Joseph noch weitere Ortsnamen entlang der Route zum Mittelmeer und notierte sie gewissenhaft in seinem Büchlein.
»Warum wollt ihr eigentlich nach Europa?«, fragte Joseph.
Yoba klappte das Büchlein zu. »Weil da unser Onkel lebt.«
»Und wo sind eure Eltern?«
»Die sind tot«, log Yoba. »Deshalb wollen wir ja zu unserem Onkel.«
Joseph horchte interessiert auf. »Ihr habt einen Onkel in Europa? Wartet der auf euch?«
»Nein, das nicht«, gestand Yoba. Er steckte sein Tagebuch wieder weg. »Wir werden ihn überraschen.«
16.
In dem idyllischen Ferienparadies herrschte helle Aufregung. Immer mehr Touristen erhoben sich aus ihren Liegen und drängten neugierig an den Strand. Eine Frau schrie. Die Sicherheitsmänner versuchten die Urlauber zurückzuhalten, während vor dem Hotel bereits die ersten Krankenwagen eintrafen. Julian entledigte sich der Pressluftflasche, pellte sich aus dem Taucheranzug und ließ die Sachen einfach an Ort und Stelle liegen. Das kleine, wasserdicht eingepackte Buch, das er in der Brandung gefunden hatte, nahm er mit.
Am Strand hatte sich inzwischen eine Menschentraube gebildet. Zwei Sanitäter hasteten mit einer Trage atemlos an Julian vorbei. Giuseppe hatte die Leiche vom Meeresgrund hochgeholt, und als die Menschenmasse sich öffnete, um die Sanitäter durchzulassen, sah Julian noch einmal den toten Mann. Das Salzwasser hatte seine schwarze Haut bleich und schwammig werden lassen. Julian wurde erneut speiübel.
Die Sanitäter stellten ihre Trage im Sand ab und bedeckten den Toten mit einer glänzenden Folie. Inzwischen trafen auch die Carabinieri ein. Sie bemühten sich nach Kräften die Schaulustigen vom Ort des Geschehens fernzuhalten. Ein Familienvater in gestreifter Badehose zückte seinen Fotoapparat, aber kaum hatte er die Kamera eingeschaltet, wurde er von einem Carabinieri angeblafft. Der eingeschüchterte Mann ließ den Fotoapparat wieder sinken. Sichtlich
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