Der Schrei des Löwen
bemerkte er die vier jungen Männer im Raum. Sie hockten mit dem Rücken zu ihm um einen Teller mit Reis auf dem festgestampften Lehmboden. Alle trugen Jeans und T-Shirt, dem Alter nach konnten sie Studenten sein. Offenbar waren sie sehr hungrig, denn sie schenkten Yoba und Chioke keinerlei Beachtung. Stattdessen waren sie voll und ganz damit beschäftigt, ihr karges Essen gegen die noch hungrigeren Fliegen zu verteidigen.
»Was ist passiert?«, flüsterte Yoba, ohne die vier Männer aus den Augen zu lassen.
Chioke umschlang seinen großen Bruder und drückte ihn wortlos an sich. Die Dollars! , schoss es Yoba in dieser Sekunde durch den Kopf. Er löste sich hastig aus Chiokes Umarmung. Zu seiner Erleichterung entdeckte er die unförmige Leinentasche neben sich. Yoba zog sie hastig näher und tastete sie ab. Durch den steifen Stoff hindurch konnte er die Gelddose deutlich spüren. Er schickte ein Dankgebet an seine Ahnen und wollte Anthonys Gri-Gri berühren, aber seine Hand griff ins Leere. Das Lederband mit dem Amulett war verschwunden.Yoba lief ein Schauer über den Rücken. Hoffentlich war das kein böses Omen.
Er trocknete Chioke die Tränen mit einem Zipfel seines Fußballtrikots. Sein Bruder lächelte ihn selig an.
»Seht nur, da ist jemand von den Toten auferstanden!«, sagte einer der Männer laut. Auch die anderen drehten sich nun um. Sie hatten ihr spärliches Mahl beendet. Um den leeren Teller balgten sich Schwärme von Fliegen.
»Willkommen in Agadez, dem übelsten Rattennest der Welt!«, sagte einer der jungen Männer auf Ibo, Yobas Stammessprache. Er machte einen sympathischen Eindruck. »Ihr hattet wirklich großes Glück. Das muss ich schon sagen.«
»Wie … wie sind wir hierhergekommen?«, fragte Yoba vorsichtig. Die vier Männer wirkten nicht gefährlich, aber man konnte ja nie wissen.
»Du warst bewusstlos«, erklärte der junge Mann. »Wir sind zufällig vorbeigekommen, als sie dich und den stummen Zwerg da überfallen haben.« Er fuhr mit der Hand durch die Luft. »Wir teilen uns dieses Rattenloch hier.«
»Ihr kommt aus Nigeria, stimmt’s?«, stellte sein fülliger Freund fest. Auch er sprach fließend Ibo. »Lass mich raten: Ihr kommt aus Aba oder irgendwo da in der Nähe!«
Als Yoba zögernd nickte, fuhr er fort. »Dachte ich mir’s doch. Wir kommen ebenfalls aus dem Delta. Zumindest Babatunde und ich. Ich heiße Sunday.« Er deutete auf seine Freunde: »Und das sind Maurice und Kutu. Maurice kommt aus Kamerun, Kutu aus Ghana.«
Die Namen von Sunday und Babatunde und ihr Akzent verrieten Yoba, dass die beiden Nigerianer vom Nachbarstamm der Yoruba waren. Kein Wunder, dass sie so gut Ibo sprachen.In Afrika war es selbstverständlich, die Sprache seiner Nachbarstämme zu beherrschen. Als Angehöriger der Ibo konnte Yoba außer seiner Stammessprache und Englisch, der offiziellen Landessprache Nigerias, auch noch Yoruba und Haussa, die Sprache seines muslimischen Freundes Akim. Darüber hinaus verstand er ein paar Brocken von der Stammessprache der Ekoi und Tiv. Diese Völker waren ebenfalls Nachbarn der Yoruba.
Yoba befühlte behutsam seine geschwollene Lippe. Sein Schädel brummte und er hatte den Geschmack von Blut im Mund. »Warum habt ihr uns geholfen?«, fragte er misstrauisch. Nach dem Überfall traute er niemandem mehr.
Seine Frage überraschte Babatunde, den Nigerianer. Er schien der Wortführer der Gruppe zu sein. »Sollten wir etwa zusehen, wie zwei Landsleute auf offener Straße ausgeraubt werden?« Er schmunzelte nachsichtig. »Dass ihr gerade frisch über die Grenze gekommen seid, sieht jeder Esel auf eine Meile Entfernung. Ihr solltet wirklich vorsichtiger sein, Jungs. Wir sind hier nicht zu Hause in Nigeria!«
»Danke für den Tipp!«, gab Yoba gereizt zurück. Er zog die Leinentasche an sich, gleichzeitig schielte er unauffällig zur Türöffnung, die mit einer schmutzigen Decke verhängt war.
»Entspann dich!«, sagte Kutu, der das bemerkt hatte. Er hatte die Figur eines Boxers, und da er als Ghanaer kein Ibo konnte, sprach er wie die meisten in dieser Region Haussa.
»Ihr braucht keine Angst zu haben«, versicherte er. »Wir sind zufällig vorbeigekommen und wollten euch nur helfen. Eure Tasche haben wir nicht mal angerührt. Aber du musst uns unbedingt verraten, was für ein Schatz da drin ist.« Er nickte in Chiokes Richtung. »Der Knips hat sie mit Händenund Füßen verteidigt. Er hat Maurice fast gebissen, als er sie anfassen wollte.«
»Nicht nur
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