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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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Hälfte!«
    Nun entbrannte ein harter Kampf. Yoba feilschte gut, so wie er es von seiner toten Mutter gelernt hatte, und am Ende zahlte er für sich und seinen Bruder jeweils hundertzwanzig Dollar. Das war sogar noch etwas weniger als die Hälfte der ursprünglich geforderten Summe. Trotzdem blieb der Betrag in seinen Augen astronomisch hoch. Zu Hause in seinem Dorf hätten Chioke und er leicht ein ganzes Jahr davon leben können. Und sie wären jeden Abend mit vollem Bauch ins Bett gegangen. Aber wenigstens hatte er hart verhandelt und sich nicht über den Tisch ziehen lassen. Außerdem gab es keinen Grund, kleinlich zu sein. Noch hatten sein Bruder und er ja genügend Geld.
    Yoba betrachtete ehrfürchtig die beiden Zettel, die ihm der Libyer nach Erhalt des Geldes aushändigte. Sie trugen den selbst gemachten Stempel des Menschenschleusers und seine krakelige Unterschrift. Kaum zu glauben, dass diese Papierfetzen so kostbar waren. Sie würden seinen Bruder und ihn hoffentlich unbeschadet durch die Wüste bis hinauf zum Meer bringen. Babatunde und seine Freunde hatten ihm erzählt, dass man Italien von dort aus bereits sehen konnte. Yoba faltete die beiden Tickets sorgfältig zusammen und legte sie behutsam zwischen die Seiten seines kleinen grünen Tagebuchs. Er konnte es kaum erwarten, Europa endlich mit eigenen Augen zu sehen.

21.
    Julian suchte die Liegestühle am Strand ab. Er war früh auf den Beinen und das halbe Hotel schlief noch, dennoch hoffte er, dass Adria schon wach war. Er hatte bis spät in die Nacht in dem kleinen grünen Tagebuch gelesen. Die winzige Schrift war nicht leicht zu entziffern gewesen und auch das Englisch war anders als das in der Schule. Einige Wörter kannte er überhaupt nicht, aber am Ende hatte er es bis zur letzten Seite durchgelesen. Jetzt war er ziemlich aufgewühlt und hatte das Bedürfnis, mit jemandem über das zu sprechen, was er gelesen hatte. Bestimmt schläft sie noch, überlegte Julian. Aber dann entdeckte er Adria am Swimmingpool. Zwei prollige Bodybuilder-Typen belagerten ihren Liegestuhl und ihre blöden Anmachsprüche schienen Adria schwer auf die Nerven zu gehen. Dennoch tat Julian so, als würde er sie nicht bemerken. Er wusste nicht, was er hätte sagen sollen. Außerdem konnte er auf die beiden Typen in seiner momentanen Laune gut verzichten. Also schlich er unauffällig an dem Trio vorbei und hockte sich zu Giovanni an die Poolbar.
    Zu seiner Überraschung erhob sich Adria aus ihrem Liegestuhl und kam zu ihm an die Bar. Der gestreifte Badeanzug stand ihr wirklich klasse, fand Julian.
    »Guten Morgen!«, sagte sie gut gelaunt. »Gut geschlafen?«
    »Nicht besonders«, erwiderte Julian. »Ehrlich gesagt habe ich kein Auge zugetan.« Er war überrascht über seine eigene Aufrichtigkeit.
    »Das sieht man«, stellte Adria mit einem Lächeln fest. »Tröste dich, mir ging es nicht viel anders. Das muss gestern ja auch ein ziemlicher Schock für dich gewesen sein. Giuseppe von derTauchschule hat mir erzählt, du hättest den toten Afrikaner im Meer gefunden. Warum hast du denn nichts gesagt?«
    Julian antwortete nicht. Stattdessen schielte er zu den beiden Typen hinüber, die ihn mit bösen Blicken bedachten. Adria schien davon nichts mitzubekommen.
    »Wusstest du, dass sie gestern noch mehr Leute aus dem Wasser gefischt haben?«, sagte sie, während sie bei Giovanni per Handzeichen einen Espresso bestellte.
    »Ach ja?« Julian horchte interessiert auf. »War unter den – äh – Toten auch ein Junge?«
    »Wieso fragst du?«, wollte Adria verwundert wissen.
    »Deswegen.« Julian zog das kleine grüne Tagebuch aus der Gesäßtasche seiner Shorts. »Es gehört einem sechzehnjährigen Jungen.«
    »Echt?« Adria platzte vor Neugier. »Was steht denn drin?«
    »Es ist ein Tagebuch«, entgegnete Julian. »Der Junge, der es geschrieben hat, kommt aus Nigeria.«
    »Und wie heißt er?«
    »Yobachi. Aber offenbar nennen ihn alle nur Yoba. Auch er selbst.«
    »Und worüber schreibt dieser Yoba?« Adria verdrehte die Augen. »Mann, dir muss man wirklich jedes Wort aus der Nase ziehen!«
    Julian tippte auf das Buch. »Warum liest du es nicht selbst?«
    »Auf keinen Fall!«, wehrte Adria entgeistert ab. »Ich lese keine fremden Tagebücher! Ich führe selbst eins, weißt du? Der Gedanke, jemand anderes könnte es lesen … gruselig!«
    »Der Junge beschreibt seine Flucht aus Afrika«, sagte er. »Und er schreibt viel über seinen kleinen Bruder. Ich glaube, sein Bruder ist

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