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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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vor der Abreise in ihrem Zimmer zu schlafen. Der Medizinstudent aus Nigeria und seine Freunde hatten allen Grund zum Feiern gehabt: Maurice hatte tatsächlich nach wochenlanger Warterei endlich die lang ersehnte Überweisung erhalten. Jetzt konnten die vier ihre Reise in den Norden fortsetzen und natürlich hatte das mit einer Flasche Dattelwein ausgiebig gefeiert werden müssen. Da Yoba Alkohol nicht ausstehen konnte, hatte er es jedoch vorgezogen, den Abend allein mit Chioke zu verbringen. Zu oft hatte er erleben müssen, wie sich sein Vater unter dem teuflischen Einfluss des Alkohols in ein prügelndes Ungeheuer verwandelte. Wenn er getrunken hatte, war nicht einmal seine Mutter vor ihm sicher gewesen. Deshalb waren er und Chioke an diesem Abend auch erst dann zurückgekehrt, als die Feier schon vorbei war.
    Yoba dachte an den morgigen Tag. Babatunde, Sunday, Kutu und Maurice lagen im Raum verteilt auf der Erde und schliefen ihren Rausch aus. Sie schnarchten im Dunkeln um die Wette. Wie froh und erleichtert er darüber war, dass sie morgen früh alle den gleichen Lkw besteigen würden, hatte Yoba ihnen nicht verraten.
    »Schläfst du schon?«, flüsterte er Babatunde zu.
    Babatunde brummte.
    Yoba versuchte es erneut. »Babatunde? Darf ich dich was fragen?«
    »Nur wenn es sein muss«, grummelte Babatunde und schlug nach einem Moskito.
    »Ist die große Wüste wirklich so grauenvoll, wie die Leute behaupten?«
    »Die große Wüste ist noch viel schlimmer!«, entgegnete er. »Wenn du dich verirrst oder der Laster eine Panne hat, bist du verloren.«
    Yoba geriet ins Grübeln. Wenn man bedachte, dass jeden Tag Dutzende Lkws vom Autohof aufbrachen und sich auf jedem etwa einhundertzwanzig bis einhundertfünfzig Personen befanden, musste es in der Wüste zugehen wie auf einem Marktplatz. Dabei war der Autohof, wo er die Fahrscheine für sich und Chioke gekauft hatte, nicht mal der einzige Startplatz in Agadez und auch die Jeeps hatte er noch nicht mit eingerechnet.
    »Also, ich würde bei einer Panne einfach warten, bis jemand vorbeikommt«, entschied Yoba. Er stützte sich auf den Ellenbogen und sah über seinen Bruder hinweg zu Babatunde herüber. »Ich würde ganz einfach am Straßenrand auf den nächsten Lkw warten.«
    »Straßenrand?« Babatunde lachte leise. Der Mond fiel durch die Fensteröffnung auf sein Gesicht. »Hinter Agadez gibt es keine Straßen mehr«, amüsierte er sich. »Da gibt es nur noch Wüste. Zweitausend Kilometer nichts als Steine und Sand.«
    Nun war Yoba doch ein wenig beunruhigt. Er streckte sich wieder aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Auf jeden Fall würde er für Chioke und sich genügend Wasserkanister mitnehmen. Maurice hatte Recht: Besser einen zu vielals einen zu wenig. Dann tastete er im Dunkeln nach ihrer Tasche. Sie war bereits prall gefüllt mit Lebensmitteln für die Reise. Das meiste davon hatte er auf dem Markt gegen die restlichen Schuhe eingetauscht. Beruhigt legte er sich wieder hin. Seine Gedanken wanderten zu Adaeke. Jetzt waren sie schon so weit voneinander entfernt, eine halbe Weltreise, und dennoch spürte er ihre Nähe. So als stände sie mitten im Raum.
    »Babatunde?«, begann Yoba erneut. Irgendwo in der Ferne hupte ein Auto. »Darf ich dich noch was fragen?«
    »Aber dann ist Schluss!«, stöhnte Babatunde. »Morgen wird ein heißer Tag. Wer weiß, wann wir wieder schlafen können oder ein Dach über dem Kopf haben.«
    Yoba bohrte weiter. »Warum willst du eigentlich nach Italien? Hast du da Verwandte?«
    »Leider nicht!«, klagte Babatunde. »Mit einem Visum bräuchte ich nicht wie ein Krimineller durch die Wüste zu schleichen und mein Leben auf einem überfüllten Boot zu riskieren. Abgesehen davon will ich nach England. Italien liegt nur auf dem Weg.«
    Yoba ließ nicht locker. »Und warum tust du es dann trotzdem? Du hast doch eben selbst gesagt, wie gefährlich die Reise durch die Wüste und die Überfahrt sind.«
    »Ich will mein Medizinstudium beenden«, erklärte Babatunde ernst. »Daheim in Lagos waren die Studiengebühren so hoch, die konnte ich einfach nicht mehr bezahlen. Egal wie viele Jobs ich nebenbei gemacht habe. Und meine Eltern sind nun mal einfache Bauern. Also habe ich lange genug gespart, um nach England zu gehen und dort zu studieren.«
    »Ist das Studium in Europa denn umsonst?«, fragte Yobaungläubig. Vielleicht konnte er ja doch noch seinen Traum verwirklichen und selbst Arzt werden.
    »Das nicht«, erwiderte Babatunde.

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