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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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»Aber wenn man nebenbei arbeitet, kriegt man dafür wenigstens genug Geld, um die Gebühren zu bezahlen. Und es bleibt sogar noch was übrig.«
    »Und was ist mit Kutu und den anderen?«, wollte Yoba wissen. »Warum wollen die gehen?«
    »Kutu hat seine Arbeit als Ingenieur verloren und findet in Ghana keine neue Stelle, weil es viel zu viele Ingenieure gibt. Und bei Sunday ist es so, dass seine Frau ihr zweites Baby erwartet. Dabei konnte er seine Familie eigentlich schon nach dem ersten Kind kaum ernähren. Außerdem ist seine Schwiegermutter wohl eine ziemliche Hexe …«
    »Und Maurice?«
    »Den musst du selber fragen«, flüsterte Babatunde. »Ich glaube, er hat Flugblätter an seiner Uni verteilt. Deshalb hatte er Ärger mit der Polizei und musste abhauen. Mehr weiß ich nicht.« Er hob den Kopf und sah über Yobas schlafenden Bruder hinweg. »Und warum wollt ihr beiden unbedingt nach Europa?«
    »Ich will, dass Chioke gesund wird und zur Schule gehen kann!«, schoss es aus Yoba heraus. Dann fügte er leise hinzu: »Außerdem konnten wir nicht länger in unserem Dorf bleiben.«
    Babatunde wurde neugierig. »Was ist passiert? Bis jetzt hat dein Bruder noch kein einziges Wort gesagt. Er ist doch nicht stumm, oder?«
    »Nein, ist er nicht«, wiegelte Yoba ab. »Chioke ist ganz normal. Er ist hier drin nur ein bisschen durcheinander.« Er tippte sich im Mondlicht an die Stirn.
    »War er schon immer so?«, hakte Babatunde nach.
    Yoba schwieg und biss sich auf die Lippe. Bislang hatte er mit niemandem über die furchtbare Nacht damals im Dorf geredet. Nicht einmal mit Adaeke. Er hatte Angst, die Leute würden Chioke dann komisch ansehen. So wie in ihrem Dorf, wo sie jeden Sonntag in die Kirche gegangen waren und trotzdem insgeheim an Geister glaubten. Bei Babatunde war das irgendwie anders. Immerhin war er Arzt. Ihm konnte er vielleicht vertrauen. Also fasste er sich ein Herz.
    »Mein Vater glaubt, Chioke sei von einem bösen Geist besessen«, sagte er leise, damit es die anderen nicht hörten. »Deshalb gibt er Chioke die Schuld am Tod unserer Mutter. Immer wenn er betrunken war, hat er überall im Dorf herumerzählt, Chi-Chi sei verhext und bringe jedem nur Unglück. Irgendwann haben ihm die Leute geglaubt.« Yoba schluckte. Die Erinnerung an die damaligen Geschehnisse schnürte ihm den Hals zu. Es kam ihm so vor, als sei das alles erst gestern passiert.
    »Das war ziemlich unverantwortlich von deinem Vater«, befand Babatunde ernst. »Mit Geistern ist nicht zu spaßen. So was macht den Leuten Angst.«
    »Ja, und deshalb haben sie einen Voodoo-Priester bezahlt«, sagte Yoba düster. »Damit er Chioke den bösen Geist wieder austreibt. Das ganze Dorf hat Geld dafür gespendet.«
    »Und was hast du gemacht?«
    »Ich habe Chioke befreit«, fuhr Yoba fort. »Aber da war es schon zu spät. Die Zeremonie war bereits vorüber. Der Voodoo-Priester hatte ihm schon das Zeichen auf die Brust geritzt und ihn mit warmem Hühnerblut beschmiert. Er hat am ganzen Körper gezittert.« Yoba stockte. »Seitdem redet er überhaupt nicht mehr.«
    Vor seinem inneren Auge tauchten plötzlich die Bilder ihrer Flucht auf. Noch in der gleichen Nacht hatten sie sich heimlich davongestohlen und waren mit dem ersten Minibus in die Stadt geflohen. Ihr betrunkener Vater hatte nichts bemerkt.
    »Ich habe das Zeichen gesehen«, meinte Babatunde traurig. »Als dein Bruder sein Hemd hochgezogen hat.«
    Plötzlich fiel Yoba etwas ein. Er stützte sich erneut auf seinen Ellenbogen. »Kannst du Chi-Chi nicht gesund machen? Ich meine, du bist doch Arzt, du musst ihm doch helfen können!«
    »Ich bin kein fertiger Arzt«, erwiderte Babatunde ruhig. »Leider. Und selbst wenn, wäre ich auch nicht der richtige. Dein Bruder braucht einen Doktor für seine Seele. Ich vermute, er hat damals einen schweren Schock erlitten. Außerdem könnte er vielleicht Autist sein.«
    »Was ist denn ein Autist?«, fragte Yoba erschrocken.
    »Diese Menschen suchen Schutz, indem sie sich in ihre eigene Welt einschließen. Einige kommen manchmal aus ihrer Welt heraus, andere nie.«
    Yoba war plötzlich ganz aufgeregt. »Und? Kann man das heilen?«
    »Mit der richtigen Therapie kann man seinen Zustand bestimmt verbessern. Zumindest kann man seinen Schock lindern.« Babatunde drehte den Kopf in Yobas Richtung. »Manchmal heilt aber auch einfach die Zeit. Auf jeden Fall darfst du die Hoffnung nicht aufgeben. Wenn du einen guten Platz für deinen Bruder findest, wird es ihm

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