Der Schrei des Löwen
Autist oder so was.«
Adria rührte schweigend in ihrem Espresso.
»Glaubst du, die beiden waren auf dem gesunkenen Schiff?«, fragte sie nach einer Weile.
Julian wusste es nicht. An einen Zufall glaubte er aber auch nicht. Die Typen am Pool schienen sich noch immer nicht mit ihrer Niederlage abgefunden zu haben. So wie es aussah, konnten sie sich nicht einigen, ob sie nun herüberkommen sollten oder nicht.
»Man müsste herausfinden, ob es Überlebende gab«, sinnierte Adria. »Und ob darunter ein Junge ist.«
Julian war skeptisch. »Was sollte das für einen Sinn haben?«
»Na, um ihm sein Tagebuch zurückzugeben!«, erwiderte Adria. »Wozu sonst?« Sie hob den Kopf, ohne mit dem Rühren aufzuhören. Also, ich würde mein Tagebuch zurückhaben wollen.«
»Ich weiß nicht …« Julian betrachtete unschlüssig das kleine Büchlein.
»Willst du es etwa in die Mülltonne werfen?«
»Nein. Natürlich nicht!«, widersprach Julian empört. »Aber vielleicht könnte man es abgeben. Bei den Behörden, meine ich.«
»Behörden?« Adria lachte und legte den Löffel auf die Untertasse. »Wir sind in Italien! Glaubst du ernsthaft, irgendein Beamter würde für so was den Hintern hochkriegen? Dann kannst du das Buch genauso gut selbst wegwerfen.«
Sie nippte an ihrem heißen Espresso. Fasziniert verfolgte Julian jede ihrer Bewegungen.
»Was schlägst du vor?«, fragte er.
Adria stellte die Tasse ab. »Die Sache ist doch klar: Entweder wir kümmern uns drum oder keiner.«
Das »Wir« war Julian nicht entgangen und hob seine Launeschlagartig. Den Rest des Tages oder sogar den Rest der gesamten Ferien an Adrias Seite zu verbringen war eine überaus verlockende Aussicht.
»Aber wie sollen wir das anstellen?«, fragte er.
»Wir fahren mit dem Bus in die Stadt. Irgendjemand bei der Küstenwache wird schon wissen, ob unter den Überlebenden ein Junge ist. Spätestens heute Nachmittag sind wir wieder zurück.« Sie begeisterte sich an ihrer eigenen Idee. »Ich bin schon seit zwei Wochen hier, langsam fällt mir die Decke auf den Kopf! Außerdem ist der Tag sowieso gelaufen.« Sie nickte in Richtung ihres Liegestuhls. Die beiden Muskelprotze warteten offenbar auf ihre Rückkehr, um ihr Glück erneut zu versuchen.
»Und wann wollen wir losziehen?«, erkundigte sich Julian. Er konnte sein Glück kaum fassen.
»Gleich nach dem Frühstück. Ich will noch eine Runde schwimmen und eine Mail schreiben. Danach können wir los.«
Julian zögerte. »So einfach ist das nicht«, sagte er, während er das Tagebuch betrachtete. »Meine Eltern lassen mich garantiert nicht aus dem Hotel. Nicht nach dem, was gestern passiert ist.«
Adria schaute ihn mit gespieltem Unglauben an. »Und du tust ja immer alles, was deine Eltern dir sagen …«
»Nein, nein!«, wehrte Julian hastig ab. »Natürlich nicht!«
»Na, dann bin ich ja beruhigt!«, meinte Adria mit einem Augenzwinkern. »Wir treffen uns in zwei Stunden am Bus. Er hält genau vor dem Hotel.«
Während sie das sagte, erhob sie sich von ihrem Barhocker und ließ Julian allein. Sie trat an den Rand des Pools, überprüfte mit einem geübten Griff den Sitz ihres Haargummis und tauchte dann mit einem eleganten Kopfsprung in das türkisblaue Wasser.
Julian sah ihr immer noch völlig fasziniert zu, als ihm jemand von hinten auf die Schulter tippte.
»Finger weg von der, du Lutscher!«
Julian drehte sich um. Die beiden Bodybuilder-Typen waren endlich zu einer Entscheidung gelangt und die schien nicht unbedingt zu seinen Gunsten ausgefallen zu sein. Sie bauten sich mit verschränkten Armen vor ihm auf.
»Die Schnitte ist nichts für dich, Keiner!« Der Größere von beiden fixierte Julian von oben herab. »Kapiert? Oder rede ich chinesisch?«
Der Muskelprotz war mindestens einen Kopf größer als er. Julian schätzte ihn auf zwanzig. Sein tätowierter Kumpel sah etwas jünger aus, schien aber noch hohler im Kopf zu sein.
»Die braucht ’nen richtigen Kerl!«, ergänzte er. »Also mach dich vom Acker, sonst gibt’s was auf die Ohren!«
Während er das sagte, nahm er Adrias halb volle Espresso-Tasse und kippte sie auf Julians Schoß.
22.
Yoba lag ausgestreckt auf einer verfilzten Decke und starrte an die Decke. Es war mitten in der Nacht, aber er bekam vor lauter Aufregung kein Auge zu. Durch das Fensterloch sah er den Mond und in der Gasse hinter der billigen Pension kämpften zwei Hunde um weggeworfene Essensreste. Babatunde hatte ihm und seinem Bruder angeboten die Nacht
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