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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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feierlicher Miene.
    »Wirklich?« Yoba strahlte.
    Babatunde seufzte. »Ich habe in Lagos Medizin studiert«,erklärte er. »Wir haben alle studiert. Kutu ist zum Beispiel Ingenieur.«
    Yoba war verwirrt. »Und warum seid ihr dann von zu Hause weg?«
    »Weil es keine Arbeit gibt«, stieß Kutu verbittert hervor. »Und wenn man welche hat, verhungert man trotzdem. Zumindest kann damit niemand eine Familie ernähren.«
    Seine Freunde murmelten erneut ihre Zustimmung. Egal aus welchem Land sie stammten, die Probleme waren die gleichen. Sie saßen alle in einem Boot.
    »Du kannst so lange zur Schule gehen, wie du willst«, führte Maurice aus. »Es nützt nichts. Reich werden nur die Politiker und die Gangster. Und wenn die Not groß genug ist, gibt es den nächsten Krieg.«
    Yoba holte sein Tagebuch hervor, in dessen Deckel er den Wohnort seines Onkels notiert hatte.
    »Wisst ihr, wo das ist?«, fragte er und zeigte auf das fremdartige Wort.
    Sunday beugte sich vor. »Hamburg«, las er laut. Dann zupfte er sich erneut an seinem Ohrläppchen. »Ich glaube, das ist eine große Hafenstadt in Deutschland. Die Freundin meiner Frau war mal da. Behauptet sie zumindest.«
    Yoba verschluckte sich fast vor Aufregung. »Ist das wahr? Ist dieses Deutschland weit weg von Italien? Ich meine, wisst ihr, wie man da hinkommt?«
    Sunday zuckte mit den Schultern. Auch seine Freunde wussten nichts Näheres. Yoba war trotzdem sehr zufrieden. Immerhin wusste er jetzt, wo sein Onkel wohnte. In Deutschland. Dem Land von Ballack und Müller.

20.
    Das Zusammentreffen mit Babatunde und seinen Freunden erwies sich als wahrer Glücksfall. Sobald die Mittagshitze nachgelassen hatte, zeigten ihm die vier, von wo aus die Lkws durch die Wüste starteten. Der Autohof lag nicht weit von ihrem gemieteten Zimmer entfernt, und als Yoba in ihrem Schlepptau durch das offene Tor trat, traute er seinen Augen nicht: Das von einer Mauer umgebene Areal war größer als ein Fußballfeld. Was Yoba in Staunen versetzte, waren nicht allein die überraschend vielen Menschen, die sich auf dem staubigen Gelände tummelten. Sie kamen aus allen möglichen afrikanischen Ländern und ihre verschiedenen Sprachen und Dialekte vermischten sich zu einem unentwirrbaren Durcheinander. Nein, was Yoba am meisten beeindruckte, waren die haushohen Lastwagen in der Mitte des staubigen Platzes: Das waren wahre Ungetüme!
    Plötzlich stieg ihm der Duft frischen Brotes in die Nase und ihm lief augenblicklich das Wasser im Mund zusammen. Zu seiner Rechten sah er verschiedene Verkaufsstände, dicht gedrängt an der Innenseite der Mauer. Einige boten Lebensmittel und allerlei Konserven an, andere verkauften seltsam unförmige Pakete.
    Er zupfte Babatunde am Ärmel. »Was sind das denn für Dinger?«
    »Das sind Wasserkanister«, erklärte der ehemalige Medizinstudent. »Sie sind mit Pappe, alten Säcken und sonst was umwickelt. Dadurch bleibt das Wasser länger frisch.«
    »Pro Nase einen vollen Kanister – das ist die Regel!«, ergänzte sein Freund Maurice. »Wenn ihr wirklich durch dieWüste fahren wollt, brauchen dein Bruder und du also mindestens zwei Kanister. Besser sind drei.«
    »Und wo gibt es das Wasser?« Yoba hängte die Tasche mit den Schuhen und ihrem Reisegeld auf die andere Schulter.
    »Du kannst die Kanister auch gefüllt kaufen«, erklärte Babatunde ihm. »Aber dann kosten sie natürlich mehr. Und man muss gut aufpassen, was vorher in den Dingern drin war. Sonst erwischst du einen, in dem Motoröl oder irgendwelche Chemikalien waren.«
    »Stimmt«, schnaufte Sunday in der sengenden Sonne. »Daran sollen schon Leute gestorben sein.« Er blieb stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Schrecklich: Du hängst in der Wüste fest und das Einzige, was du zu trinken hast, ist vergiftetes Wasser.« Er schüttelte sich vor Grauen.
    Erst jetzt registrierte Yoba, dass einer der riesigen Lkws startklar war. An den Seiten war er über und über mit umwickelten Plastikkanistern behängt, darüber baumelte in mehreren Schichten das Gepäck der Reisenden. Der turmhohe ehemalige Militärlaster sah aus, als sei er von einem merkwürdigen Pilz befallen. Allein die Motorhaube und das Führerhaus waren frei geblieben.
    Im Vorbeigehen bemerkte Yoba, dass jeder einzelne Kanister mit einem Namen beschriftet war. Ihre Besitzer saßen neben dem abfahrbereiten Laster auf dem Boden. Es mussten etwa hundertzwanzig Personen sein, wie Yoba schnell überschlug. So etwas konnte er gut,

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