Der Schrei des Löwen
Sorge, Kleiner!« Er gab Yoba einen Klaps auf die Schulter. »Sieh dir diese vielen Menschen an: Denkst du, auch nur ein einziger von denen hat einen Pass oder ein gültiges Visum? Nein, die Regel ist ganz einfach: Wer Geld hat, fährt. Alles andere kümmert hier niemanden.«
Besser hätte es gar nicht kommen können, dachte Yoba insgeheim. Geld hatten sein Bruder und er genug. Das Problem war nur, dass niemand etwas davon mitbekommen durfte, denn sonst würden sie es schnell wieder los sein. Deshalb war er froh, als Babatunde einen Bekannten traf und mit ihm zu plaudern anfing. Yoba nutzte die günstige Gelegenheit und zog seinen Bruder in das nächste Reisebüro.
Der Mann hinter dem wackeligen Schreibtisch hob nicht einmal den Kopf, als sie eintraten. Er saß über ein Schriftstück gebeugt und studierte es mit einer Lupe. Seine Wangen waren eingefallen und unrasiert, seine knöchellange Dschallaba jedoch so weiß, dass einem fast die Augen wehtaten. An seinem schmalen Handgelenk schlackerte eine goldene Uhr und an seinen Fingern funkelten dicke Ringe. Ein Ventilator lief auf vollen Touren in seinem Rücken.
»Verschwindet!«, blaffte der Mann, ohne aufzusehen. »Geht woanders betteln und stehlt mir nicht meine Zeit! Achmeeed!«
Sofort erschien ein barfüßiger Junge. Er war etwa in Chiokes Alter. »Schaff die raus!«, befahl er ihm.
»Lass mich!« Yoba schüttelte den Jungen ab und legte einen Zwanzig-Dollar-Schein auf den Tisch. Zum ersten Mal hob sein Gegenüber den Kopf. Das Gaddafi-Poster an der Wand ließ vermuten, dass er Libyer war. Er legte seine Lupe zur Seite, nahm den Geldschein und hielt ihn gegen das Licht, das durch die offene Tür in sein Büro fiel.
Plötzlich lächelte er breit: »Sieh an, sieh an! So kann man sich täuschen.« Gleichzeitig verscheuchte er seinen Laufburschen mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Habt ihr etwa noch mehr von diesen Scheinen?«
»Ja, haben wir!«, entgegnete Yoba. »Aber nur, wenn Sie uns nach Europa bringen.«
»Nach Europa?« Der Mann runzelte die Stirn. Er lehnte sich zurück und spielte mit seiner goldenen Uhr. »Und was sagen eure Eltern dazu?«
Yoba hatte sich dazu entschlossen, alles auf eine Karte zu setzen. »Was sollen die ganzen Fragen?«, gab er frech zurück.»Wir zahlen – Sie bringen uns nach Europa. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Also, sind wir im Geschäft?«
»Nicht so schnell, mein Junge.« Der Mann lächelte erneut. Seine Zähne waren fast so weiß wie seine Dschallaba. »Allah belohnt die Geduldigen! Außerdem kann ich euch nur eine Fahrt durch die Wüste vermitteln. Um ein Boot nach Italien müsst ihr euch selbst kümmern.«
Yoba überlegte. Das war besser als nichts.
»Und was kostet das?«, fragte er. »Ich meine, die ganze Strecke bis zum Meer?«
»Die ganze Strecke? Mal sehen …« Der Mann tippte auf einem klobigen Taschenrechner herum. »Zwei Personen?« Er sah auf und warf einen skeptischen Blick auf Chioke, der sein Gesicht in den kühlen Luftstrom des Ventilators hielt und dabei leise vor sich hin summte.
»Zwei Personen«, erklärte Yoba ungerührt. Dass sein Bruder auf die Leute eine verstörende Wirkung hatte, war er mittlerweile gewohnt.
»Also schön«, sagte der Mann und räusperte sich. Ihm war die Anwesenheit dieser beiden merkwürdigen Jungen spürbar unangenehm. Andererseits witterte er ein gutes Geschäft und ein gutes Geschäft hatte er sich noch nie entgehen lassen. Vielleicht besaßen die beiden Jungen in den schmutzigen Fußballtrikots tatsächlich das Geld. Was mit ihnen in der Wüste passierte, ging ihn schließlich nichts mehr an. »Es ist deine Entscheidung. Wollt ihr mit einem Lkw oder mit einem Jeep fahren?«
»Wo ist da der Unterschied?«
Der Libyer legte den Taschenrechner beiseite und seine Fingerspitzen gegeneinander. »Ganz einfach: Der Jeep ist teurer,weil er Umwege fährt. Dafür trifft man auf weniger Kontrollen. Die Lkws sind billiger. Sie nehmen die Standardroute über Dirkou.«
»Wir nehmen den Lkw«, entschied Yoba. Auf einem voll besetzten Laster würden sie sicher weniger auffallen als auf einem Jeep oder Pick-up.
Der Mann tippte wieder Zahlen in seinen Taschenrechner. Dann drehte er ihn um und zeigte Yoba die Summe.
»Dollars?«, rief Yoba erschrocken aus, als er die Zahl las.
Der Menschenschleuser hob unschuldig die Hände: »Ich dachte, ihr hättet das nötige Geld. Aber wenn …«
»Wir haben das Geld!«, schimpfte Yoba. »Aber nicht so viel! Wir zahlen höchstens die
Weitere Kostenlose Bücher