Der Schrei des Löwen
ihnen sei. Also zog er sein Tagebuch heraus und begann zu schreiben. Er schrieb so lange, bis ihm nichts mehr einfiel und ihm die Augen zufielen. Er dämmerte in der Mittagshitze vor sich hin und allein die lästigen Fliegen hinderten ihn am Einschlafen.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Mustafa endlich an der Seite des Kaufmanns wieder aus der Hütte kam.
»Du machst mich zum Bettler!«, zeterte Ibrahim. »Wenn meine Familie verhungern muss, trägst allein du die Verantwortung!« Er fuchtelte theatralisch in der Luft herum. »Warum lässt Ali auch seinen Madugu für sich verhandeln? Warum kommt er nicht selbst? Das ist nicht gerecht! Kaufleute sollten mit Kaufleuten verhandeln und nicht mit sturen Eseln!«
Der alte Karawanenführer lächelte. »Du wirst es überleben.« Er blickte seinem Geschäftspartner in die Augen. »Also, gilt dein Wort?«
Der Kaufmann blinzelte zu Yoba hinüber, der so tat, als döse er im Schatten vor sich hin. »Willst du es dir nicht noch einmal überlegen? Ich mache dir einen wirklich guten Preis.«
Mustafa ließ sich nicht beirren. »Ich will dein Wort! Bei deiner Ehre!«
Ibrahim wand sich unter dem harten Blick des Madugu.
»Okay, okay, wenn es dein Wille ist!«, stöhnte er schließlich. »Ich gebe dir mein Wort. Ich lasse ihn mitfahren, zufrieden? Aber Dirkou ist gefährlich. Zu viele vom Lastwagen gefallene Bettler. So wie dein schwarzer Freund da!« Er nickte in Yobas Richtung.
Der alte Karawanenführer zeigte sich unbeeindruckt. »Der Junge hat die Wüste überlebt. Er wird seinen Weg gehen, denn Allah hält seine Hand über ihn.« Damit war das Thema für ihn erledigt.
Der Kaufmann schüttelte verständnislos den Kopf. Dann strahlte er plötzlich: »Nun komm endlich mit, du Sturkopf!«, frohlockte er. »Ich zeige dir etwas, was dein Herz höherschlagen lässt!«
Er führte Mustafa zu den bereits herbeigeschafften Salzkegeln. Mustafa schien mit der Qualität des in Kegelform gepressten Salzes zufrieden zu sein, denn nur wenig später kam er zu Yoba herüber. Er zog seine bodenlange Dschallaba ein Stück nach oben, ging in die Hocke und hielt ihm eine Handvoll frisch geerntete Datteln hin.
»Hast du Hunger?«, fragte er. »Sie stammen von dem Baum, der dir Schatten spendet.«
Yoba griff mit Freude zu. Inzwischen hatte er diese süßen, kleinen Dinger lieben gelernt. Mustafa sah schweigend zu, wie er die Datteln nacheinander in sich hineinstopfte.
»Ibrahim wird dich mitnehmen«, sagte er. »Er hat Schwierigkeiten mit den Behörden und fährt deshalb morgen nach Dirkou. Vielleicht findest du dort deinen Bruder.«
Yoba wäre dem alten Madugu beinahe um den Hals gefallen. Im letzten Moment besann er sich eines Besseren.
»Und wie weit ist es von hier bis Dirkou?«, fragte er.
»Dirkou ist nur eine halbe Tagesreise entfernt«, antwortete Mustafa.
Yoba lehnte sich gegen den Baumstamm. Er verspürte eine unglaubliche Erleichterung. Wenn sein Bruder zu dem Lkw zurückgefunden hatte, würde er ihn finden. Vielleicht konnte er seinen Fehler wiedergutmachen.
Plötzlich hörte er ein lautes Klatschen, gefolgt von einem Wimmern. Der Kaufmann hatte einem seiner Jungen eine Ohrfeige verpasst, der sich nun heulend die Wange rieb. Yobas Miene verfinsterte sich.
»Meinst du, man kann diesem Sklaventreiber trauen?«, fragte er Mustafa skeptisch. »Er könnte mich doch einfach zu seinem Sklaven machen. So wie die anderen Jungs auch.«
»Du hast uns belauscht?« Mustafa war überrascht. »Dann verstehst du die Sprache der Tuareg?«
»Nein«, erklärte Yoba. »Aber mit solchen Typen wie dem kenne ich mich aus. Man muss doch nur die Augen aufmachen.«
Mustafa fasste ihn sanft am Unterarm. »Du hast viel erlebt, das sehe ich. Vertrau mir: Er wird dich zu deinem Bruder bringen.«
»Und wenn nicht?« Yoba blieb misstrauisch.
»Wenn er sein Wort bricht, steht die Hochzeit seiner Tochter unter keinem guten Stern«, erklärte der Madugu ernst. »Das würde er nie wagen. Er verehrt seine Tochter über alles. Außerdem würde ich ihn sonst töten.«
32.
Die Fahrt nach Dirkou dauerte mit Ibrahims Pick-up nicht einmal einen halben Tag. Der Kaufmann fuhr selbst, zwei seiner Jungen begleiteten ihn hinten auf der Ladefläche. Im Gegensatz zu ihnen durfte Yoba auf dem Beifahrersitz Platz nehmen. Wie er richtig vermutete, wollte der Kaufmann nicht, dass er sich mit seinen Sklavenjungen unterhielt und sie womöglich auf falsche Gedanken brachte. Vielleicht hatte er sogar vor, die beiden in
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