Der Schrei des Löwen
die Finger mit im Spiel gehabt hatte. Seine Sorge galt allein Chioke.
»Wir müssen umkehren!«, röchelte er, als seine Kräfte allmählich zurückkehrten. »Mein Bruder ist vielleicht zurückgelassen worden. Wir müssen ihn suchen!«
Er richtete sich mühsam auf dem schwankenden Dromedarauf und blickte zurück. Die Kette der mit Hirsesäcken und Kisten beladenen Tiere zog sich weit über die ausgedörrte Ebene. Ihr Ende verlor sich erst im gleißenden Sonnenlicht am Horizont.
Mustafa dirigierte das Leittier mit einem sanften Ruck am Zaumzeug durch eine Bodensenke. »Da draußen in der Wüste ist noch jemand?«, fragte er ungläubig.
»Ja, mein Bruder!«, stieß Yoba hervor. »Bitte! Er hat wahrscheinlich nicht zum Lastwagen zurückgefunden. Vielleicht irrt er jetzt allein durch die Wüste!«
Der alte Karawanenführer schüttelte bedächtig den Kopf. Obwohl man sein Gesicht nicht sehen konnte, verriet die Langsamkeit der Bewegung seine Traurigkeit. »Dann wirst du deinen Bruder nie mehr wiedersehen«, sagte er.
»Aber wir müssen es doch wenigstens versuchen!«, protestierte Yoba. Er schrie beinahe.
»Dafür ist es zu spät«, beschwichtigte ihn Mustafa. Er zog das Tuch von seinem Gesicht herunter und lächelte Yoba mitfühlend an. Sein Mund war voller schwärzlicher Stummel. »Bete für ihn! Wenn dein Bruder vom Weg abgekommen ist, können wir ihm nicht mehr helfen. Wo sollten wir ihn suchen?«
»Aber wir können ihn doch nicht einfach zurücklassen!«
»Einhundertzwanzig Dromedare können nicht einfach umkehren. Außerdem haben wir wegen dir schon genug Zeit verloren. Du musst dich damit abfinden, Junge.« Der Karawanenführer zog das um den Kopf geschlungene Tuch wieder über die Nase, so dass nur ein Sehschlitz blieb. Dann wendete er sich ab und ging schweigend weiter neben dem Dromedar her.
Yoba wurde schmerzlich bewusst, dass ihm jetzt nur noch eine Hoffnung blieb: Vielleicht hatte sein Bruder ja von alleine zum Lagerplatz zurückgefunden. Auch wenn er von der vergrabenen Gelddose nichts wusste, Mary würde bestimmt dafür sorgen, dass man ihn mitgenommen hatte. Das versuchte sich Yoba zumindest einzureden. Aber besser fühlte er sich dadurch nicht. Zum x-ten Mal verfluchte er seine Heimlichtuerei und übertriebene Vorsicht, denn er hätte das Geld nie ohne das Wissen seines Bruders vergraben dürfen. Sollte Chioke es geschafft haben, war er jetzt ohne einen einzigen Dollar in den Norden unterwegs. Ohne fremde Hilfe waren seine Überlebenschancen gleich null.
»Wohin gehen wir eigentlich?«, wollte Yoba nach einer Weile wissen. Er beugte sich von dem schwankenden Dromedar herab, damit der alte Tuareg ihn auch hörte. Seine Stimme war noch immer schwach und sein Hals fühlte sich an, als habe er mit Sand gegurgelt.
»Wir sind unterwegs zu einer Oase«, erwiderte der Tuareg, ohne seinen Blick von dem vor ihnen liegenden Weg abzuwenden. »Wir holen Salz, dann kehren wir wieder zurück.«
Yoba wusste, dass sein Lastwagen für einen ganzen Tag in einer Oase namens Dirkou haltmachen würde, bevor er seine Reise fortsetzte. Die Passagiere hatten sich darüber unterhalten. Mit ein wenig Glück konnte er ihn vielleicht dort einholen.
»Kommen wir auch an einer Oase namens Dirkou vorbei?«, krächzte er aufgeregt.
»Dirkou liegt nicht auf unserer Route«, erwiderte der Madugu. »Dort gibt es keine Salzgärten.«
»Und wie lange braucht man von dieser Salzoase nach Dirkou?«, drängte Yoba. »Ist das weit?«
»Es ist weder weit noch nah.« Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, prüfte der alte Karawanenführer den Stand der Sonne. Sein Blick schweifte über den Horizont. »In der Wüste hat jeder Weg seine eigene Zeit, mein Junge. Wer das nicht versteht, ist verloren.«
Yoba war enttäuscht. »Und wann erreichen wir die Salzoase?«
»Bei Neumond.«
»Aber wann ist das? Ich meine, wie viele Tage sind wir noch unterwegs?«
»Eine Woche«, erwiderte Mustafa. »Vielleicht auch länger. Das hängt ganz allein von Allah und der Wüste ab.«
Damit brach für Yoba endgültig eine Welt zusammen. Den Lkw würde er unmöglich einholen können. Er würde nie erfahren, ob Chi-Chi in der Wüste zurückgeblieben war oder nicht.
Die folgenden Tage erlebte Yoba wie in Trance. Die Karawane zog durch die endlose Weite der Wüste, von morgens um fünf bis abends um zehn. Die schweißtreibende Monotonie tilgte schon bald jegliches Zeitgefühl. Nur die stampfenden Huftritte der Dromedare und das Knarzen ihrer
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