Der Schrei des Löwen
Dirkou zu verkaufen oder einzutauschen. Yoba wusste es nicht. Auf jeden Fall wirkten die Jungen auf der Ladefläche überaus verängstigt. Zu gerne hätte Yoba den schwitzenden Sklavenhalter gefragt, warum er Kinder für sich arbeiten ließ. Aber das wagte er nicht, denn Mustafa konnte ihn jetzt nicht mehr beschützen. Alles hing davon ab, ob der Kaufmann Wort hielt oder nicht.
Mit Wehmut dachte er an den alten Karawanenführer zurück. Er würde ihn nie wiedersehen, dabei verdankte er ihm sein Leben und noch einiges mehr. Betrübt schaute Yoba aus dem Autofenster. Die Wüste bestand jetzt nur noch aus Sanddünen. Der Pick-up wühlte sich über einen steilen Hügel und der Motor jaulte gequält auf. Mehrmals drohte der Wagen stehen zu bleiben und durch sein eigenes Gewicht rückwärts wieder herunterzurutschen, aber zu Yobas Erstaunen war der dicke Kaufmann ein geschickter Fahrer. Mit viel Gefühl steuerte er den Wagen den Steilhang hinauf, und kaum hatten sie die Düne erklommen, ging es auf der anderen Seite in rasender Schlitterfahrt wieder bergab. Die beiden Jungen auf der Ladefläche hatten alle Mühe, nicht herunterzufallen. Auf diese Weise überwanden sie Düne um Düne, bis sie endlich die ersten Reifenspuren entdeckten und Ibrahim auf eine staubige Piste einbog. Ungefähr eine Stunde später krochen sie über einen letzten, gigantischen Hügel, dann erreichten sie Dirkou.
Die Oase lag mitten in einem Meer aus Sand und war weitaus größer als die Salzoase, aus der sie kamen. Was Yoba sofort auffiel, waren die aus rotem Lehm gebauten Häuser und die uniformierten Soldaten am Ortseingang. Als strategisch wichtige Transitstation diente Dirkou gleichzeitig als Militärlager.
Als sie in die Oase einfuhren, sah Yoba am Pistenrand einen Laster, der gerade erst aus der Wüste angekommen sein musste. Seine erschöpften Passagiere hatte man in ein mit Stacheldraht umzäuntes Areal getrieben, wo sie nun in der prallen Sonne auf dem Boden knieten. Sie waren von den Strapazen in der Wüste so entkräftet, dass sie kaum ihre Hände hinter dem Kopf halten konnten. Die Soldaten kümmerte der erbärmliche Zustand der Leute kaum. Einer nach dem anderen musste sein Gepäck an sich nehmen und wurde hinter eine halb verfallene Mauer geführt. Yoba erschauderte bei dem Gedanken, was ihnen hinter der Mauer blühte, wenn sie nichts zu »verschenken« hatten.
Ibrahim passierte die Kontrollstelle, ohne anzuhalten. Die Soldaten kannten den Salzhändler aus der benachbarten Oase. Sie winkten und riefen ihm im Vorbeifahren einen gut gelaunten Gruß zu. Vorsichtshalber machte sich Yoba auf dem Beifahrersitz ganz klein. Bei dem Gedanken, Chioke könnte vielleicht den brutalen Soldaten in die Hände gefallen sein, wurde ihm ganz flau im Magen. Sollte es Chi-Chi bis hierhin geschafft haben, musste er ihn so schnell wie möglich finden.
Ibrahim steuerte den Pick-up entlang der eher ärmlichen Häuserreihen und hielt direkt vor der Polizeistation. Kaum hatte er den vor Hitze glühenden Motor abgestellt, bedankte sich Yoba und bat ihn, den alten Madugu von ihm zu grüßen, dann machte er sich eilig aus dem Staub. Und dies im wahrsten Sinne des Wortes, denn alles in diesem Ort schien in Staub und Sand zu versinken. Wo das Wasser für die vielen Bäume herkam, war Yoba schleierhaft. Nicht einmal einen Brunnen konnte er entdecken. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich, durstig, wie er war, an seine Nachforschungen zu machen und herauszufinden, ob jemand Chioke gesehen hatte.
Da die Oase gleichzeitig als Militärstützpunkt fungierte, traf man an jeder Ecke auf Soldaten. Yoba musste auf der Hut sein. Möglichst unauffällig sprach er jeden an, der eine schwarze Hautfarbe hatte und wie ein Flüchtling aussah. Um die Einheimischen machte er einen großen Bogen. Aber niemandem war ein stummer Junge in einem Fußballtrikot aufgefallen. Auch auf dem Platz, auf dem die Lkws aus der Wüste ankamen, erntete er nur Kopfschütteln. Er erkundigte sich bei den ortsansässigen Menschenschleusern, den Fahrern der pausierenden Lkws, sogar die an allen Ecken herumlungernden Gestrandeten bedrängte er mit seinen Fragen – aber es war aussichtslos. Niemand konnte ihm weiterhelfen. Auf dem Autoplatz herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Beinahe stündlich trafen neue Laster mit erschöpften Flüchtlingen aus Agadez ein, andere wiederum rüsteten sich bereits zur Weiterreise in den Norden.
Zutiefst ernüchtert sah sich Yoba nach einem
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