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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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zu, wie die Polizisten Mary abführten. Sie heulte wie ein verwundetes Tier und rief immerfort nach ihrem Baby. Schon bald liefen von überall her Kinder zusammen. Die Leute streckten die Köpfe aus ihren Häusern und die Kanuri, die Händler unter den Vordächern aus Palmwedeln, kommentierten das ganze Spektakel.
    Yoba war der Hunger inzwischen gründlich vergangen. Erschüttert kehrte er zurück in den Schatten, holte sein Tagebuch hervor und begann zu schreiben. Das half ihm, seine Gedanken zu ordnen und wieder einen klaren Kopf zu bekommen. So wie es aussah, war der Lkw aus Agadez von Banditen überfallen worden. Ob sein Bruder auf dem Laster war, wusste er nicht. Wenn ja, konnte er nur hoffen, dass ihm nichts passiert war. Danach war der überfallene Lkw offenbar doch noch hier in der Oase angekommen. Er hatte wahrscheinlich einen Tag Pause gemacht, so wie die meisten Lkws, und war dann ohne die arme Mary weitergefahren. Da er seinen Bruder in Dirkou nicht finden konnte, blieben also nur zwei Möglichkeiten: Entweder war Chi-Chi in der Wüste ums Leben gekommen oder er war auf dem Lkw weiter in Richtung Norden gefahren.
    Dass die Banditen Chi-Chi vielleicht entführt haben könnten, um ihn als Kindersklaven zu verkaufen, daran mochte Yoba gar nicht erst denken. Stattdessen fasste er einen Entschluss. Er würde dem Lkw so lange weiter folgen, bis er wusste, was mit Chioke passiert war. Auch wenn er vielleicht wirklich in der Wüste zurückgelassen wurde – Yoba brauchte Gewissheit. Eine Idee, wie er sich ohne Geld auf einen der nach Norden fahrenden Lkws schmuggeln konnte, hatte er bereits.

33.
    »Das ist verrückt!«, flüsterte Adria und blickte sich ängstlich um. »Lass uns lieber umkehren!«
    Sie war zum ersten Mal in einem Leichenschauhaus und es gefiel ihr ganz und gar nicht. Das künstliche Licht an der Decke ließ den langen Gang vor ihnen noch unwirklicher erscheinen. Es war absolut still. Allein die unsichtbare Klimaanlage summte.
    »Wir sollten gar nicht hier sein!«, raunte Adria. »Hier riecht es ganz komisch. Außerdem ist mir saukalt!« Sie trug lediglich ein ärmelloses Sommerkleid und schlang daher fröstelnd ihre Arme um die Schultern.
    »Wir beeilen uns!«, sagte Julian leise und unterdrückte ein Grinsen. Dann rief er, so laut er konnte: »Hallo! Ist hier jemand?«
    Niemand antwortete. Das gesamte Gebäude schien wie ausgestorben.
    »Lass uns lieber gehen!«, bettelte Adria. »Bitte!«
    »Ja, gleich!« Julian war vor einer Flügeltür aus Metall stehen geblieben. Das italienische Schild konnte er nicht lesen, aber es war unschwer zu erraten, dass der Zutritt für Unbefugte verboten war. Und Verbotsschilder empfand er schon immer als persönliche Einladung. Egal in welcher Sprache. Also schlüpfte er durch die Flügeltür. Adria blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
    Der Raum war dunkel und es dauerte etwas, bis Julian den Lichtschalter gefunden hatte. Er kam sich ziemlich wagemutig vor, aber als die Neonröhre an der Decke flackernd aufleuchtete, wurde er sofort wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. In der Mitte des gekachelten Raumes thronte ein blank polierter Stahltisch mit einem Abfluss, der in den Boden eingelassen war. Daneben stand ein Rollwagen mit Sägen, Zangen und anderen Utensilien bereit.
    Die Farbe wich aus Julians Gesicht. Er wollte gerade auf dem Absatz kehrtmachen, als hinter ihm die Flügeltür gegen die Wand knallte. Adria stieß vor Schreck einen Schrei aus und grub ihre Fingernägel in Julians Arm.
    Ein Mann mit Glatze und Kittel rollte eine Bahre in den Raum, auf der ein mit einem Laken zugedeckter Körper lag.
    »Wer zum Teufel seid ihr?«, entfuhr es ihm auf Italienisch, als er die beiden Eindringlinge bemerkte. »Was habt ihr hier verloren?«
    »Wir … wir suchen jemanden«, stotterte Adria, ohne Julians Arm loszulassen.
    »Das ist ein Leichenschauhaus! Hier kann man nicht einfach so reinspazieren!«
    »Aber am Empfang war niemand!«, erwiderte Adria tapfer.
    Sie bemühte sich um ein unschuldiges Lächeln, woraufhin der Pathologe ein stummes Stoßgebet gen Himmel schickte. »Wahrscheinlich ist Lorena mal wieder ›kurz‹ einkaufen!«, seufzte er. »Es ist immer dasselbe mit diesen Praktikanten!«
    Er gab der Bahre mit der zugedeckten Leiche einen Schubs und rollte sie neben den Stahltisch.
    »Fass mal mit an!«, forderte er Julian auf Italienisch auf.
    Julian rührte sich nicht. Er verstand kein Wort.
    »Du sollst ihm helfen!« Adria

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