Der Schrei des Löwen
Dromedars. Den, so vermutete Yoba, würde er wahrscheinlich nie mehr loswerden.
Mustafa führte die Karawane zu einem prächtigen Palmenhain am Rand der Oase. Dort machte er vor einer einfachen Hütte halt. Der alte Madugu zwang sein Dromedar mit seiner Reitgerte in die Knie und stieg ab. Yoba schwang sich ebenfalls vom Rücken des brüllenden Tieres und reckte ausgiebig seine schmerzenden Glieder. Die anderen Tuareg folgten Mustafas Beispiel und manövrierten ihre erschöpften Dromedare in den kühlen Schatten der Palmen. Sofort eilten Jungen mit Wassereimern herbei, um die Tränke für die Tiere zu füllenund beim Abladen der Waren zu helfen. Erst dann wurden die durstigen Dromedare in kleinen Gruppen zur Tränke geführt. Nur so ließ sich ein Chaos unter den Tieren verhindern.
»Mustafa!« Ein dicker Mann trat aus der armselig wirkenden Hütte. Er trug eine blitzsaubere Dschallaba und eine weiße Kappe auf dem Kopf. »Allah sei mit dir!«, begrüßte er den alten Madugu. »Wie war deine Reise?«
Der dicke Kaufmann und der alte Karawanenführer begrüßten sich nach Tuaregsitte, indem sie mehrmals ihre Fingerspitzen aufeinanderlegten.
»Sei gegrüßt, Ibrahim!«, sagte Mustafa.
»Ich habe schon auf dich gewartet«, lächelte der Kaufmann. »Ich habe mein bestes Salz für dich aufgehoben. Du wirst glücklich sein!« Mit einem energischen Wink dirigierte er zwei vorbeischlendernde Jungen zum Abladen der Dromedare.
Die Säcke und Kisten wurden unter einer zwischen den Palmen gespannten Plane aufgestapelt. Dort würden sie lagern, bis sie an umherziehende Nomaden oder in der Oase selbst verkauft wurden. Der dicke Kaufmann beaufsichtigte die Arbeit mit Argusaugen. Sichtlich zufrieden wandte er sich an Mustafa. »Ich sehe, du hast an die Seile gedacht, um die ich dich gebeten habe.«
Mustafa band einen Teil seines Turbans los und entblößte sein Gesicht. »Das habe ich. Und auch an das Kleid für deine Tochter.«
»Gut, gut. Dann steht der Hochzeit ja nichts mehr im Wege.« Ibrahim verdrehte die Augen. »Frauen machen einen arm, mein Freund! Nimm dich vor ihnen in Acht!«
Er lachte ausgiebig über seinen eigenen Witz.
»Komm, mein Freund, lass uns ein Glas Tee trinken undGeschäfte machen.« Er fasste Mustafa am Arm, um ihn zu seiner unscheinbaren Hütte zu führen. Als er Yoba sah, der untätig herumstand und beim Abladen und Stapeln der Waren zusah, fuhr er ihn wütend an. »Was ist mit dir los, du Faulpelz! An die Arbeit! Oder soll ich dir Beine machen?«
»Er gehört zu mir«, mischte sich Mustafa ein. »Ich habe ihn aufgelesen. Er war halb tot.«
Ibrahim musterte Yoba mit prüfendem Blick. »Er sieht gesund aus«, meinte er. »Ich mache dir einen guten Preis.«
Mustafa legte die Hand auf Yobas Schulter. »Der Junge ist nicht verkäuflich. Er hat Allahs Segen.«
»Wie du willst.« Der Kaufmann zuckte mit den Schultern. »Es ist deine Entscheidung. Aber schade ist es trotzdem. Ich könnte ihn gut brauchen. Ich sage dir, heutzutage halten die Jungen nichts mehr aus. Sie sterben schon an einem winzigen Fieber! Du siehst einen verzweifelten Mann vor dir: Sag mir, soll ich mein Salz etwa selbst ernten?«
Draußen vor der Oase hatte Yoba die flachen Becken gesehen, in denen das salzhaltige Grundwasser der Oase zum Verdunsten gebracht wurde. Natürlich waren ihm sofort die dürren Kinder aufgefallen, die in den Becken das zurückgebliebene Salz mit bloßen Händen zusammenkratzten. Keiner der Kindersklaven war älter als er gewesen und ihre nackten Füße und Hände waren durch den ständigen Kontakt mit der salzigen Brühe ganz zerfressen. Schlagartig wurde sich Yoba seiner prekären Lage bewusst: Er war nur ein sechzehnjähriger Junge, ewig weit von zu Hause entfernt. Niemand wusste, wo er sich befand, keiner würde ihn jemals vermissen. Yoba sah sich betroffen um. Wenn man erst einmal in dieser abgelegenen Oase festsaß, gab es kein Entkommen mehr. Die Wüste dadraußen war unüberwindbarer als jede von Menschenhand gebaute Mauer.
Der Kaufmann verschwand mit Mustafa in seiner Hütte. Yoba wusste nicht, was er tun sollte, deshalb setzte er sich unter eine Palme und sah den Jungen beim Abladen zu. Nachdem sie fertig waren, begannen sie damit, merkwürdige Kegel herbeizuschleppen. Sie waren hüfthoch und offenbar ziemlich schwer. Yoba bekam ein schlechtes Gewissen, weil er faul im Schatten saß und den schuftenden Jungen nicht half, aber er wollte auf jeden Fall den Eindruck vermeiden, dass er einer von
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