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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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knuffte ihn in die Seite.
    »Was, ich?« , fragte Julian entsetzt.
    »Es war deine Idee, also stell dich nicht so an!«, flüsterte ihm Adria zu. Dem Pathologen gegenüber machte sie eine entschuldigende Geste. »Er versteht leider nur Deutsch.«
    Julian trat zögernd neben die Bahre. Trotz der Kälte hier unten begann er zu schwitzen, aber kneifen konnte er jetzt auchnicht. Adria sollte ihn ja nicht für einen Feigling halten. Also sprang Julian wohl oder übel über seinen eigenen Schatten.
    Der Pathologe bedeutete ihm, die Füße zu nehmen, er selbst umfasste den Oberkörper. Dann wuchteten sie die Leiche auf sein Kommando hin auf den Stahltisch. Julian war heilfroh, dass das Laken dabei nicht verrutschte.
    »Geht doch!«, meinte der Pathologe und klopfte ihm auf die Schulter. »Und jetzt raus hier!«
    Er führte Adria und Julian auf den Gang hinaus, wo er eine zerknautschte Schachtel aus der Tasche seines Kittels fischte und sich mit nikotingelben Fingern eine Zigarette anzündete. Erleichtert blies er eine Wolke in Richtung des Rauchmelders.
    »Der funktioniert sowieso nicht!«, meinte er, als er Julians verunsicherten Blick bemerkte. »Hat er noch nie!« Er sog gierig an seiner Zigarette. »Also, jetzt mal raus mit der Sprache. Was macht ihr hier?«
    »Wir suchen einen afrikanischen Jungen«, erklärte Adria. »Er muss auf dem Flüchtlingsschiff gewesen sein, das vor zwei oder drei Tagen draußen vor der Küste gesunken ist.«
    »Und warum?«
    »Weil wir ihm was zurückgeben wollen.«
    Der Pathologe stutzte. »Einem Toten?«
    »Nein, das nicht«, erwiderte Adria verlegen. »Wir … wir haben nur gedacht, wenn der Junge nicht mehr lebt, müssen wir nicht weiter nach ihm suchen.«
    Der Pathologe zerdrückte die Zigarette mit seiner Schuhspitze, öffnete ein altertümliches Fenster und schnippte die Kippe hinaus. Verkehrslärm und ein Schwall warmer sizilianischer Sommerluft schwappte ihnen entgegen. Dann schloss er das Fenster wieder.
    »Bitte!«, bettelte Adria. »Sie müssen uns helfen!«
    Julian fühlte einen kleinen Stich, denn Adria bedachte den Pathologen mit einem unwiderstehlichen Lächeln.
    »Ihr sucht also einen schwarzen Jungen?« Der junge Arzt rieb sich das Kinn und tat so, als würde er nachdenken. In Wahrheit begutachtete er jeden Zentimeter von Adrias Körper.
    »Nun ja«, meinte er endlich. »Vielleicht habe ich da wirklich etwas für euch.« Er grinste. »Gestern frisch eingetroffen.«
    Er forderte die beiden mit einem Wink auf, ihm zu folgen. Sie verließen das Gebäude, überquerten einen kleinen Hof und betraten einen ultramodernen Neubau. Im gläsernen Foyer roch es sogar noch nach frischer Farbe.
    »Das haben wir der EU zu verdanken!«, erklärte der Pathologe, während er voraneilte. »Damit auch ja nichts durcheinanderkommt.«
    »Sie meinen, hier liegen nur ertrunkene Flüchtlinge?«, fragte Adria.
    »Bis zur Decke!«, schimpfte der Arzt. »Fein säuberlich aufgereiht und durchnummeriert.«
    Julian verstand zwar kein Wort, aber er beobachtete, wie der junge Arzt seine Fäuste in den Kitteltaschen ballte.
    »Was hat er gesagt?«, wollte er von Adria wissen.
    »Hier in dem neuen Gebäude liegen ausschließlich Afrikaner«, erklärte sie mit gedämpfter Stimme. »Den Rest erzähle ich dir später. Wie willst du eigentlich erkennen, ob es der richtige Junge ist?«
    Julian zuckte mit den Achseln. »Dieser Yoba muss ungefähr in meinem Alter sein. Und sein kleiner Bruder hat Narben auf der Brust.«
    »Was für Narben?«
    »Von einer Voodoo-Zeremonie«, raunte Julian.
    »Oh, Gott!«, entfuhr es Adria. »Das hört sich ja furchtbar an!«
    »So, da wären wir!« Der vorausstürmende Pathologe betätigte einen Schalter und mit einem Surren schwangen die Flügel einer breiten Stahltür auf.
    »Äh, ich warte hier«, meinte Adria, nachdem der Arzt im Kühlraum verschwunden war.
    »Ganz sicher?« Julian sah sie prüfend an.
    »Glaub mir, ich war mir noch nie im Leben so sicher!«, erwiderte Adria, während die Tür wieder zuging. Außerdem war das Ganze deine Idee.«
    »Okay, schon kapiert!«, meinte Julian lässig. Gleichzeitig verfluchte er sich selbst, denn nun gab es kein Zurück mehr, ohne wie ein Großmaul dazustehen.
    Julian atmete tief durch, dann drückte er den Schalter und die automatische Tür schwang erneut auf. Als er den riesigen, taghell erleuchteten Kühlraum betrat, schlug ihm ein beißender Chemikaliengestank entgegen. Instinktiv hielt er sich die Nase zu. Der Pathologe schritt

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