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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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bereits die meterlangen, mit beschrifteten Schubfächern versehenen Wände ab.
    »Dann wollen wir mal …« Er zog eines der Schubfächer ein Stück weit heraus und warf einen kurzen Blick hinein. »Fehlanzeige. Die hier sind schon zwei Wochen alt. War ein Schlauchboot mit drei kompletten Familien.« Julian verstand natürlich kein Wort.
    Er stieß die Schublade schwungvoll zurück und wechselte auf die gegenüberliegende Seite, wo er ein weiteres Fach öffnete.
    »Na, wer sagt’s denn!«, rief er. Gleichzeitig zog er die hüfthohe Lade vollständig heraus und winkte Julian zu sich.
    Julian war immer noch mulmig zu Mute, aber er bewegte sichtrotzdem wie ein ferngesteuerter Roboter und trat näher. In dem Schubfach lag der aufgequollene Leichnam eines afrikanischen Kindes. Der Junge konnte höchstens vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, als er im Meer ertrunken war. Sein Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit aufgedunsen.
    »Und? Ist er das?«, fragte der Pathologe interessiert.
    Julian schaffte es gerade noch, den Kopf zu schütteln. Dann stürmte er aus dem Kühlraum und hätte auf dem Flur beinahe Adria über den Haufen gerannt.

34.
    Yoba hatte alles genau geplant. Den ganzen Nachmittag über hatte er das Kommen und Gehen der Laster auf dem Autoplatz beobachtet. Nachdem er herausgefunden hatte, welcher von ihnen als nächster zur libyschen Grenze aufbrach, war er losgezogen, um mit seinem letzten Geld ein mageres, viel zu lange gebratenes Hühnchen zu kaufen. Unterwegs hatte er eine verrostete Konservendose aufgelesen, sie mit Steinen gefüllt und anschließend die Öffnung so verbogen, dass die Steine nicht mehr herausfallen konnten. Danach hatte er eine Schnur an der Dose befestigt und sich einen sicheren Schlafplatz für die Nacht gesucht.
    Am nächsten Morgen war er noch vor dem ersten Hahnenschrei wieder auf den Beinen. Einige Passagiere des Lasters schliefen noch, andere beteten oder verrichteten ihre Morgentoilette. Yoba schlich sich unauffällig näher heran. Die beiden Fahrer tranken bereits ihren Morgentee. Er musste sich beeilen, denn bis zur Abfahrt blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Yoba sah sich suchend um, und als er den abgemagerten, zotteligen Hund entdeckte, atmete er erleichtert auf.
    Yoba fand, er sah von allen streunenden Hunden auf dem Autoplatz am gefährlichsten aus. Mit dem Hähnchen in der Tasche pirschte er sich an den Hund und sein dösendes Rudel heran. Die Kreatur beäugte ihn misstrauisch, aber als Yoba ihr ein Stück gebratenes Hühnchen hinwarf, zögerte sie keine Sekunde. Blitzschnell war das Hühnchen in ihrem Rachen verschwunden.
    Yoba mochte Hunde nicht besonders. Zu Hause in seinem Dorf landeten sie allenfalls im Kochtopf, aber ihm blieb keineWahl. Als er hörte, wie die Fahrer die Passagiere anwiesen sich mit ihrem Gepäck in einer Reihe aufzustellen, trat Stufe zwei seines Plans in Kraft. Yoba lockte den Hund mit dem Fleisch unauffällig zu dem abfahrbereiten Laster. Als er nahe genug dran war, warf er der gierigen Kreatur eine Schlinge um den Kopf, an deren Ende er die mit Steinen gefüllte Konservendose befestigt hatte. Der Hund hielt kurz inne, dann legte er los. Er versuchte die Schlinge abzuschütteln, aber je heftiger er sich wehrte, desto lauter schepperte die Dose an ihrem Ende. Der Hund raste wie eine Furie zwischen den Passagieren hin und her, woraufhin ein wildes Durcheinander losbrach. Die Reisenden ließen ihr Gepäck fallen und rannten schreiend drauflos, jeder versuchte sich vor der rasenden Bestie in Sicherheit zu bringen. Das war der Moment, auf den Yoba gewartet hatte. Er nutzte die Verwirrung, um mit seinem Wasserkanister unbemerkt an Bord des startbereiten Lasters zu schlüpfen. Kaum war er oben, drückte er sich so tief wie möglich in die Ecke der Ladefläche.
    Die hohe Seitenwand versperrte ihm die Sicht, aber dem Lärm nach zu urteilen beruhigte sich die Situation allmählich wieder. Der Hund war entweder die Dose losgeworden oder man hatte ihn vom Platz gejagt. Die Fahrer ließen die Reisenden gerade erneut eine Reihe bilden. Jetzt konnte Yoba nur hoffen, dass sie den Laster nicht noch einmal auf blinde Passagiere hin kontrollierten, so wie sie es zuvor getan hatten. Er wagte kaum zu atmen.
    Jeder einzelne Fahrschein wurde geprüft. Erst danach durften die Leute ihr Gepäck und ihre Wasserkanister an dem Laster befestigen und aufsteigen. Die anderen mussten so lange warten. Yoba hatte großes Glück. Die Ersten, die den Lasterbestiegen und ihn

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