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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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aussetzen. Was auf der Ladefläche passiert, interessiert sie ohnehin nicht.« Er erhob sich. »Und wegen dem Essen rede ich mit den anderen. Wenn jeder von uns etwas abgibt, kriegen wir dich schon durch.«
    Yusuf überließ Yoba den kläglichen Rest in der Konservendose und gesellte sich zu seinen Freunden. Kurz darauf kam er zurück und brachte ihm eine Decke. In der folgenden Nacht schlief Yoba ausgezeichnet. Zum ersten Mal seit langer Zeit.

35.
    Am nächsten Tag ging es noch vor Sonnenaufgang wieder los. Yoba konnte seinen Platz auf dem an den Seitenwänden festgezurrten Gepäck erfolgreich verteidigen. Dort war man zwar stundenlang der glühenden Sonne ausgesetzt, aber im Gegensatz zur überfüllten Ladefläche konnte man wenigstens sitzen und etwas sehen.
    Bislang waren die Fahrer nicht auf ihn aufmerksam geworden. Yoba wusste nicht, ob Yusuf mit ihnen geredet hatte und sie über ihn Bescheid wussten. Beide Fahrer waren Libyer, wobei der größere von ihnen eine wesentlich dunklere Haut hatte. Außerdem trug er einen schwarzen Vollbart. Yoba wusste, dass die Bärtigen meist besonders fromm waren. Yusuf hatte sich nicht geirrt. Wie sich herausstellte, waren beide Fahrer überraschend hilfsbereit. So warteten sie zum Beispiel mit dem Losfahren, bis wirklich alle aufgestiegen waren. Yoba hatte oft genug beobachtet, wie die Lkw-Fahrer ihren Spaß mit den Flüchtlingen trieben, indem sie »Aufsteigen!« brüllten und gleichzeitig auf das Gas traten. Das verzweifelte Gedränge der hinterherrennenden Leute amüsierte sie jedes Mal aufs Neue.
    Yoba schlang das meterlange Tuch, das ihm der alte Karawanenführer in der Oase zum Abschied geschenkt hatte, nach Tuareg-Art um den Kopf. Das Tuchende steckte er jedoch nicht fest, sondern drapierte es über seine ungeschützten Schultern und die Oberarme. Jetzt war er komplett eingehüllt, nur ein Sehschlitz war noch frei. In der Wüste darf einen die Sonne nicht finden, hatte ihm Mustafa eingeschärft.
    Derart gerüstet richtete sich Yoba auf einen weiteren eintönigen und strapaziösen Tag auf dem Laster ein. Das ständige Schaukeln, das Dröhnen des überlasteten Motors, der Gestank des Diesels – all das war ihm inzwischen vertraut. Auch die Tricks der Dschinns funktionierten bei ihm nicht mehr. Auf die vielfältigen Sinnestäuschungen im gleißenden Sonnenlicht der Wüste fiel er nicht mehr länger herein. Deshalb schenkte er dem merkwürdigen dunklen Punkt am Horizont auch keine große Beachtung. Mal tauchte er auf, dann war er wieder verschwunden. Erst als sie näherkamen, erkannte Yoba, dass es sich nicht um eine Sinnestäuschung handelte, sondern um einen anderen Lkw.
    Der Laster steckte mit der Hinterachse tief im Sand. Seine der Verzweiflung nahen Passagiere drückten sich, so gut es ging, in seinen schmalen Schatten. Es war bereits Nachmittag, aber die Sonne stand noch immer hoch und so reichte der Schattenstreifen beileibe nicht für alle. Als sie Yobas Lkw entdeckten, brach unter den Unglücklichen erlösender Jubel aus.
    Wie sich herausstellte, waren sie aus dem Norden gekommen. Während eines Sandsturms war ihr Laster von der Piste abgekommen und so lange durch die Wüste geirrt, bis er mit einem Motorschaden liegengeblieben war. Jetzt saßen sie schon seit Tagen hier fest. Noch hatten sie genug zu essen, aber das Wasser war bereits bedrohlich knapp. Yobas Fahrer beschlossen daraufhin, den im Sandmeer gestrandeten Menschen zu helfen. Jeder musste etwas von seinen Wasservorräten abgeben, auch Yoba opferte zwei Tagesrationen der warmen Brühe aus seinem Kanister. Da er bislang sehr sparsam gewesen war, besaß er danach trotzdem noch mehr als genug.
    Nachdem der erste Durst gestillt war, wurde ein gemeinsames Nachtlager aufgeschlagen. Nicht nur Yoba empfand die vorgezogene Pause als unverhofftes Geschenk. Auch seine Mitreisenden waren sichtlich froh darüber. Außerdem gab es jede Menge zu bereden, denn der liegengebliebene Lkw kam aus der Richtung, in die sie unterwegs waren: von der Küste. Er war voll mit Heimkehrern. Einige waren aus Europa abgeschoben worden, andere hatten erst gar nicht den Sprung über das Meer geschafft. Entweder hatte ihnen das Geld gefehlt oder der Mut. Nachdem sie so lange wie möglich versucht hatten in Libyen oder Tunesien zu überleben, kehrten sie nun mit leeren Händen in ihre Heimatländer zurück.
    Aber nicht alle waren gescheitert. Yoba gesellte sich zu einer Gruppe, die sich im Kreis um einen jungen Mann aus Mali geschart

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