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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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hatte. Er trug eine schicke Sonnenbrille, Jeans und tadellos saubere Turnschuhe. Alles original, wie Yoba schon auf den ersten Blick erkannte.
    »Gott ist mein Zeuge: Das Meer ist nichts für Feiglinge!«, erklärte der schlanke junge Mann großspurig. Er hieß Keita und Yoba lauschte ihm gebannt.
    »Wenn man Glück hat, endet man nur als Fischfutter«, fuhr Keita fort. »Glaubt mir: Das Meer ist das Furchtbarste, was ich je erlebt habe. Und ich hab schon ’ne Menge erlebt.«
    Die Leute von Yobas Laster wechselten betroffene Blicke. Jeder von ihnen plante mit dem Boot nach Europa überzusetzen.
    »Aber du hast es doch trotzdem geschafft«, sagte Yusuf schließlich. Der sudanesische Koch brach endlich das beklemmende Schweigen. »Sonst könntest du dir die Schuhe und die anderen Sachen ja wohl nicht leisten.«
    »Stimmt, ich war in Italien!«, prahlte Keita mit vor Stolz geschwellter Brust. »Fast zwei Jahre lang! Leider bin ich dann in eine Razzia geraten. Weil ich keine Papiere hatte, haben sie mich dann in ein Flugzeug nach Libyen gesetzt.« Er spielte lässig mit seiner Sonnenbrille. »Jetzt kehre ich nach Mali zurück. Ich will mit dem gesparten Geld ein Haus bauen und heiraten. Danach versuche ich es noch mal.«
    Im Hintergrund hörte man die Fahrer lauthals fluchen. Sie schraubten zu viert an dem kaputten Lkw herum, doch offenbar ohne nennenswerten Erfolg.
    »Kann man in Italien denn viel verdienen?«, fragte einer der Zuhörer leise. Er war ein schüchterner Bursche mit einem schmalen, von Pickeln übersäten Gesicht.
    »Ob man in Europa etwas verdienen kann?« Keita lachte schallend angesichts dieser naiven Frage. »Hör mal, ich weiß nicht, wo du herkommst, aber eins verspreche ich dir: Es ist mehr, als du in deinem ganzen Leben zu Hause verdienen kannst. Egal mit welchem Job. Ich habe sogar ein eigenes Bankkonto!«, prahlte Keita weiter. »Der Mann meiner Schwester hat es für mich eröffnet.«
    Jetzt waren alle schwer beeindruckt. Nur Yusuf war noch skeptisch: »Und du meinst, es gibt auch genug Arbeit für Leute wie uns? Mein Cousin hat mir geschrieben, dass man ohne gültige Papiere in Europa nicht arbeiten darf.«
    Keita machte eine lässige Handbewegung. »Arbeit ist kein Problem! Man muss nur die richtigen Leute kennen. Ich habe zum Beispiel als Automechaniker gearbeitet, weil ich das gut kann. Und auf dem Bau. Aber wenn man da arbeitet, muss man höllisch aufpassen. Die Polizei macht nämlich ständig Razzien.«
    »Aber warum?«, wollte ein anderer Zuhörer wissen. »Wir arbeiten gut, und das für weniger Geld als die Weißnasen.«
    Keita zuckte mit den Schultern. »Es gibt eben Leute, die gut an uns verdienen, und es gibt Leute, die das stört. So einfach ist das.«
    »Aber warum sollte sie das stören?«, wunderte sich Yusufs Nachbar. Er war vielleicht zwanzig Jahre alt und kam, wie Yoba, aus Nigeria. Allerdings gehörte er einer anderen Volksgruppe an. »Ich versteh das nicht«, meinte er. »Papiere hin oder her: Die Weißen können doch froh sein, wenn wir ihre Arbeit machen. Und das für weniger Lohn. Da haben doch beide Seiten was davon!«
    Darauf wusste selbst der reich gewordene Heimkehrer aus Mali keine Antwort. Trotzdem gab es noch hundert andere Fragen, die den Leuten unter den Nägeln brannten, und so saßen sie bis tief in die Nacht zusammen und lauschten Keitas Geschichten. Als sich die Gruppe schließlich auflöste und Yoba sich zum Schlafen zurückzog, werkelten die Lkw-Fahrer noch immer im Licht einer Taschenlampe an dem defekten Motor herum. Yoba wickelte sich in seine dünne Wolldecke und sah hinauf in den Sternenhimmel. Diesmal waren die Sterne nicht so klar wie sonst. Hoffentlich wurde das Wetter nicht schlechter. Yoba grub seine Schultern und Hüften in den Sand. Unter den Sternen zu schlafen kam ihm längst wie das Normalste der Welt vor. Obwohl er erst seit zwei Wochen durch die Wüste zog, konnte er sich kaum noch daran erinnern, wie es sich anfühlte, in einer engen Zisterne unter der Erde zu schlafen.
    Wie immer nach einer Tagesetappe war Yoba hundemüde. Dennoch kreisten seine Gedanken unaufhörlich um das, waser gerade erfahren hatte. Im Gegensatz zu diesem aufgeblasenen Angeber Keita würde man ihn bestimmt nicht wieder abschieben. Er wollte ja nur zur Schule gehen und Arzt werden. Er würde niemanden etwas kosten. Schließlich sorgte er schon seit dem Tod ihrer Mutter ganz allein für Chioke und sich.
    Plötzlich überkam Yoba eine ungeheure Wut. Er war seinem Traum

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