Der Schrei des Löwen
dauerte eine Ewigkeit. Als am nächsten Tag endlich ein Hügel am Horizont auftauchte, änderte die schier endlose Ebene ihre Farbe in ein schmutziges Braun. Am Nachmittag entpuppte sich der schemenhafte Hügel als ein gewaltiges Bergmassiv und am folgenden Morgen hatten sie wieder eine Ebene von ungeheurem Ausmaß vor sich. Diesmal war sie mit lauter Kieseln übersät, und wie Yoba verwundert feststellte, schienen alle genau gleich groß zu sein.
So ging es im Schneckentempo stetig weiter. Kilometer für Kilometer. Tag für Tag. Nacht für Nacht. Dass sie die Grenze zwischen dem Niger und Libyen bereits überschritten hatten, merkten sie allenfalls an den Uniformen der plündernden Soldaten und daran, dass diese nun arabisch sprachen. Auch Yoba war mit seinen Kräften völlig am Ende und so nahm er erst mit einiger Verzögerung den losbrechenden Jubel auf dem Lastwagen wahr. Direkt vor ihnen lag eine Asphaltstraße!
Die Straße zog sich wie eine schwarze Lebensader durch die tote Landschaft und jeder auf dem Lkw wusste, dass die schreckliche Wüste nun bald überwunden war. Sie führte geradewegs in die Ballungszentren an der libyschen Küste und damit zurück in die Zivilisation. Vor ihnen lagen noch lächerliche tausend Kilometer, dann waren sie am Ziel.
Zur Freude seiner Passagiere konnte der Lkw nun endlich schneller fahren. Obwohl er, hoffnungslos überladen, wie er war, nie mehr als dreißig Stundenkilometer schaffte, kam es Yoba so vor, als würden sie der Küste entgegenfliegen. Schonbald würde er Gewissheit über das Schicksal seines Bruders haben, denn er rechnete fest damit, einige ihrer ehemaligen Mitreisenden zu finden. Wenn der Lkw durchgekommen war, musste er ungefähr eine Woche Vorsprung haben, schätzte Yoba. Und bestimmt hatten sich nicht gleich alle auf die Weiterreise nach Europa gemacht. Abgesehen von dem nötigen Geld war es nämlich gar nicht so einfach, ein Boot für die illegale Überfahrt zu finden. Das hatte Yoba bereits mitbekommen. Die italienische Küstenwache passte immer besser auf.
Yoba betete, dass sein Bruder noch lebte. Trotz seiner Angst, seine schlimmsten Befürchtungen könnten sich bestätigen, fieberte er der Ankunft am Meer entgegen. Die Straße führte stur geradeaus. So als habe sie jemand mit einem Lineal durch den Sand gezogen. Nie konnte man ihr Ende sehen. Aber dann erspähten sie von der Ladefläche aus plötzlich etwas Grünes am Straßenrand. Es war eine verkrüppelte Dattelpalme. Seit Tagen hatten sie höchstens mal einen dürren Dornenbusch zu Gesicht bekommen, so dass ihnen die verstaubte Pflanze in diesem Moment geradezu wie ein Vorbote auf das Paradies erschien. Und sie wurden nicht enttäuscht: Bereits am Abend rasteten sie unter dem ausladenden Schirm einer mächtigen, zartrosa blühenden Akazie. Yoba sog den süßen Blütenduft genüsslich ein.
Von nun an waren sie auf der Straße auch nicht mehr allein. Immer häufiger wurde der dahinkriechende Lkw von wild hupenden Pick-ups und Motorrädern überholt. Gleichzeitig ging es nur noch bergauf. Der Laster kroch über ein Gebirge, das sich ihnen quer in den Weg stellte, und je höher es sich schraubte, desto kühler und angenehmer wurde die Luft. Yoba wickelte sich das Tuch von Kopf und Gesicht. Endlich konnteman wieder Luft holen, ohne Angst zu haben, sich an der heißen Luft die Lungen zu verbrennen oder Sand in den Mund zu bekommen.
Als sich der Lkw über den Pass gequält hatte, begann der Abstieg in eine andere Welt. Plötzlich roch die Luft nicht nur anders, sie schmeckte auch so: nach Salz! Yoba leckte sich vorsichtig über seine von der Trockenheit aufgesprungenen Lippen. Dass Meerwasser salzig war, wusste er natürlich aus der Schule, aber vorstellen konnte er sich es trotzdem nicht. Umso aufgeregter wurde er. Kaum hatten sie die Gebirgskette endlich überwunden, wurde die Landschaft immer grüner. Zuerst fuhren sie an in Reih und Glied gepflanzten Mandel- und Ölbäumen vorbei, gefolgt von ausgedehnten Zitronen- und Orangenplantagen. Dazwischen standen immer wieder riesige Tafeln mit dem überdimensionalen Porträt des libyschen Staatsoberhauptes, Oberst Gaddafi. Kurz darauf öffnete sich hinter einer Kurve der Blick auf das Meer.
Yobas Herz machte vor Freude einen Hüpfer.
37.
Die Möwen stürzten sich kreischend in das schäumende Kielwasser der Autofähre. Julian lehnte an der Heckreling und blickte auf das strahlend blaue Meer hinaus.
»Woran denkst du?«, wollte Adria wissen, während
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