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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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so nahe gewesen und mit einer einzigen Unachtsamkeit hatte er alles zerstört! Hätte er mit der Suche nach Chioke bis zum Tagesanbruch gewartet, säßen sie jetzt bestimmt in einem Boot mit Kurs auf Europa. So aber hatte er durch seine Kopflosigkeit nicht nur seinen Bruder, sondern auch das ganze Geld verloren. Selbst wenn Chi-Chi noch lebte und er ihn wiederfände, würden sie es niemals nach Europa schaffen. Denn wie Keita berichtet hatte, waren die Tickets für die Boote nach Italien noch teurer als die Fahrscheine für die Lkws durch die Wüste.

36.
    Um seine quälenden Gedanken loszuwerden, hätte Yoba sie gerne in seinem Tagebuch niedergeschrieben. Aber zum Schreiben reichte das fahle Mondlicht nicht aus. Also wälzte er sich so lange hin und her, bis er endlich vor Erschöpfung einschlief. In seinem Traum flog er über das Meer. Sein Bruder saß in einem winzigen Boot und winkte ihm zu. Das Wasser war so durchsichtig wie Glas und man konnte bis auf den Grund sehen. Als Yoba am Morgen erwachte, stand die Sonne bereits eine Handbreit über dem Horizont und schien ihm insGesicht. Er hatte verschlafen und um ihn herum herrschte bereits Aufbruchstimmung.
    »Na, gut geschlafen?«, erkundigte sich Yusuf. Er reichte Yoba ein Glas mit heißem Tee. Seit ihrem ersten Gespräch fühlte sich der sudanesische Koch offenkundig für ihn verantwortlich. Yoba hatte nichts dagegen.
    »Danke!«, gähnte er und schlürfte seinen Tee. Er war wunderbar heiß und so süß wie ein Bonbon. Sofort kehrten seine Lebensgeister zurück. Mit einem Kopfnicken deutete er in die Richtung des fremden Lastwagens. Seine Passagiere hatten die Fahrer umringt und redeten gestikulierend auf sie ein.
    »Was ist denn mit denen?«, wollte Yoba wissen. »Konnte der Laster nicht repariert werden?«
    »Leider nicht. Sie haben die ganze Nacht gearbeitet, aber anscheinend fehlt ein Ersatzteil. Ohne das geht es nicht.«
    »Und jetzt?«
    »Jetzt wollen die fremden Fahrer mit uns zur nächsten Oase fahren, um das Ersatzteil zu holen. Sie versuchen gerade es den Leuten beizubringen.«
    Aufgeregte Stimmen wurden laut, gefolgt von Murren und Raunen.
    »Und was ist, wenn es das Ersatzteil in der Oase nicht gibt?«, fragte Yoba leise.
    »Dann wollen sie die Leute mit einem anderen Laster oder mit Jeeps holen kommen.«
    Yusuf verzog keine Miene. Aber auch so konnte Yoba seine Gedanken erraten. Sobald die Fahrer weg waren, waren die armen Leute auf Gedeih und Verderb auf deren Wort angewiesen. Yoba kannte die fremden Fahrer nicht, aber dem Protest nach zu urteilen traute man ihnen wohl nicht besonders.Dennoch blieb den Heimkehrern am Ende nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Auf Yobas überfülltem Lkw war nicht einmal Platz für die Schwächsten unter ihnen. Und freiwillig wollte seinen Platz natürlich niemand räumen. Also gab man den Zurückbleibenden so viel Wasser und Nahrungsmittel, wie man eben noch entbehren konnte, und wünschte ihnen viel Glück. Dann überließ man sie ihrem ungewissen Schicksal. Yobas Lkw fuhr weiter. Die fremden Fahrer – einer davon war Libyer, der andere Marokkaner – standen auf den Trittbrettern des Führerhauses und hielten sich an den Außenspiegeln fest.
    Nach etwa drei Stunden Fahrt in der prallen Sonne quälte sich der Lkw eine hohe Sanddüne hinauf, hinter der eine Oase in Sicht kam. Sie wurden bereits erwartet. Kaum hatten Yobas Fahrer ihre beiden Kollegen abgesetzt, begann die übliche Prozedur. Die in der Oase stationierten Soldaten zwangen die Leute zum Aussteigen, schüchterten sie ein und schlugen sie, und erst als sie mit ihrer Beute zufrieden waren, durfte der Lkw weiterfahren. Von ein paar üblen Schlägen mit dem Gummischlauch einmal abgesehen kam Yoba glimpflich davon. Ein schwarzer Teenager ohne Gepäck, in zerrissener Hose und noch dazu über und über mit Staub bedeckt, versprach keinen Gewinn, sondern war reine Zeitverschwendung.
    Auch in den Oasen, an denen sie in den folgenden Tagen vorbeikamen, vollzog sich das immer gleiche, brutale Ritual. Überall dort, wo es Wasser gab, warteten Soldaten auf sie. Allein die Wüste veränderte sich fortwährend. So ging das gewellte Sandmeer allmählich wieder in eine Felslandschaft über. Einen halben Tag lang schlängelte sich Yobas Lkw durch einen Wald aus bizarr geformten Stein- und Lehmtürmen.Danach kroch er über eine Fläche, die so blendend weiß war, dass es in den Augen schmerzte. Das Plateau besaß nicht die kleinste Erhebung und seine Überquerung

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