Der Schrei des Löwen
sie zwei zankende Möwen beobachtete. Das Oberdeck der Fähre war fast leer, die meisten Passagiere zogen es anscheinend vor, die Überfahrt nach Lampedusa in der Cafeteria zu verbringen.
»Ach, an nichts Besonderes.« Julian starrte in den Horizont, wo das Meer nahtlos in den wolkenlosen Himmel überzugehen schien.
»Das glaube ich nicht! Seit wir im Leichenschauhaus waren, spielst du den großen Schweiger. Also: Was ist los?«
Der Seewind fuhr durch Adrias offene Haare. Julian starrte weiter auf das Wasser hinaus. »Eine Sache kapiere ich einfach nicht«, sagte er nach einer Weile.
»Und welche?« Adria bändigte ihre wehenden Haare mit einem Gummiband.
»Dieser afrikanische Junge …«, druckste Julian herum. »In seinem Tagebuch träumt er davon, dass sein Bruder und er wieder zur Schule gehen dürfen. Deshalb will er nach Europa.«
Er drehte sich um und schaute Adria an. »Wie kann man sein Leben dafür riskieren, zur Schule gehen zu können? Das kann es doch niemals wert sein, oder?«
Adria versank für einen winzigen Moment in Julians blauen Augen. Dann wandte sie ihren Blick schnell wieder ab.
»Unsere Welt ist nicht die einzige«, meinte sie ausweichend. »Und leider kann man sich nicht aussuchen, wo man geboren wird.«
Dann wechselte sie abrupt das Thema. »Was hast du eigentlich deiner Schwester in der SMS geschrieben?«
»Dass ich einen Ausflug nach Lampedusa mache und erst morgen wieder zurück bin.«
»Das wird deinen Eltern sicher nicht gefallen.«
»Die flippen aus!«, grinste Julian. »Würde mich nicht wundern, wenn deine Mailbox inzwischen überquillt.«
Adria holte ihr Handy aus ihrer kleinen Beuteltasche.
»Kein Empfang«, stellte sie fest. »Wir sind schon zu weit von der Küste entfernt.«
»Umso besser!«, meinte Julian. »Aber was ist mit deinem Vater? Er macht sich bestimmt Sorgen.«
»Ach, der merkt gar nicht, wenn ich weg bin! Es ist jedes Jahr das Gleiche: Wenn ich hier bin, ist Hochsaison und mein Vater hat keine Zeit.«
Sie machte ein trauriges Gesicht.
»Das tut mir leid«, sagte Julian, während er Adria insgeheim um ihre Freiheit beneidete.
Er lehnte sich weit über die Reling und sog den Geruch des Meeres in sich auf. Gleichzeitig überlegte er, was er tun sollte, wenn der afrikanische Junge nicht in dem Lager auf der Insel war. Der Pathologe hatte erzählt, es gäbe mehrere Sammellager für illegale Einwanderer, das auf Lampedusa sei lediglich das größte. Leider war es auch am weitesten weg. Die Inselgruppe, zu der Lampedusa gehörte, lag näher an Tunesien als an Sizilien und war nur mit dem Flugzeug oder der Fähre zu erreichen.
»Sag mal, warum tust du das eigentlich?«, fragte Adria ihn.
»Was denn?« Die Fähre schwankte unter Julians Füßen und er stützte sich mit den Händen an der Reling ab. Adria lehnte sich an ihn. Durch ihr dünnes Kleid spürte er die Wärme ihres Körpers.
»Du riskierst einen Riesenkrach mit deinen Eltern, nur um einen Jungen zu finden, den du nicht mal kennst.«
»Keine Ahnung. Da gibt es wahrscheinlich mehrere Gründe«, sagte er nachdenklich. »In manchen Dingen kann ich diesen Yoba gut verstehen. Ich hätte vielleicht auch versucht nach Europa zu kommen. Aber es macht mich wütend und traurig, dass er sein Leben für Dinge riskieren muss, die bei uns selbstverständlich sind. Schule zum Beispiel, oder einen guten Arzt für seinen Bruder.« Er hielt inne: »Außerdem interessiert sich sonst keiner dafür. Alle wollen bloß schön Urlaub machen.«
»Und du?«, erkundigte sich Julian. »Warum hilfst du mir? Du hast das Tagebuch ja nicht einmal gelesen.«
»Mir tut der Junge einfach nur leid«, meinte Adria. »Ebenso wie deine Eltern, übrigens. Ich würde mal sagen, du bist gerade dabei, ihnen den Urlaub endgültig zu ruinieren.«
»Vergiss doch meine Eltern!«, grummelte Julian. »Die sind selbst schuld. Immerhin haben sie mich zu diesem blöden Urlaub gezwungen.«
»Sonst hätten wir uns aber auch nicht kennengelernt. Schon mal drüber nachgedacht?«, meinte Adria und Julian rutschte sein Herz in die Hose. Er überlegte fieberhaft, was er jetzt antworten konnte, ohne das Ganze zu vermasseln.
»Äh … wir können uns ja vielleicht mal treffen«, stammelte er. »Ich meine, wenn wir wieder in Deutschland sind.«
»Ja, vielleicht«, sagte Adria und Julian wunderte sich, wie traurig sie auf einmal klang.
Adria wandte ihren Blick vom Meer ab und sah ihm tief in die Augen. Julians Herz klopfte wie verrückt, als ihr
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