Der Schrei des Löwen
Gesicht immer näher kam. Dann küsste sie ihn.
»Fantastisch! Perfekt!« Ein Fotoapparat blitzte auf und tauchte Julian und Adria für einen Sekundenbruchteil in gleißendes Licht. Erschrocken drehten sie sich um. Ein älterer Mann tänzelte mit seiner Digitalkamera um sie herum. Er trug eine kurze Trekkinghose, ein knallbuntes Hawaiihemd und Sandalen.
»Die Liebe kehrt zurück nach Lampedusa!«, rief der Mann begeistert. »Was für ein wunderbarer Aufmacher!«
»Hören Sie!«, erwiderte Julian mit säuerlicher Miene. »Wir sind nicht … äh … das war …«, stammelte er empört, besann sich dann aber eines Besseren. »Was heißt hier Aufmacher!?«
»Keine Panik«, beschwichtigte sie der Mann. »Mein Name ist Helmut Lehner. Ich bin freier Journalist. Euer Anblick war so romantisch, da musste ich einfach ein Foto machen.«
»Sind Sie etwa Klatschreporter?«, fragte Adria ihn.
»Nein, nein«, entgegnete der Mann und verstaute seine Kamera in einer Lederhülle. Dann zog er eine Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie Adria. »Ich schreibe für den Stern und den Spiegel . Na ja, manchmal. Zurzeit arbeite ich an einer Geschichte über Flüchtlinge aus Afrika. Ihr zwei seid mir vorhin unter Deck schon aufgefallen und ich habe einen Teil eures Gesprächs mitbekommen.«
»Dann wissen Sie also, was wir vorhaben?«, fragte Julian. So ganz war ihm dieser aufdringliche Reporter nicht geheuer.
»Ihr seid auf der Suche nach einem afrikanischen Flüchtling, nicht wahr?«, erwiderte Lehner.
»Ein sechzehnjähriger Junge«, erklärte Adria. »Sein Boot muss bei dem heftigen Sturm vor ein paar Tagen gesunken sein.«
»Und was wollt ihr von ihm?«
»Wir wollen ihm sein Tagebuch zurückgeben. Es wurde am Strand angeschwemmt.«
Lehner musterte die beiden Teenager mit einem prüfenden Blick. »Das ist ein Witz, oder? Ihr wollt in das am besten bewachte Flüchtlingslager Europas, um ein Buch zurückzugeben?« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich warte seit mehr als drei Monaten auf die Erlaubnis, das Lager zu besichtigen. Sie lassen niemanden rein. Nicht mal die New York Times .«
»Und warum nicht?« Julian konnte seine Enttäuschung nicht verbergen.
»Weil keiner sehen soll, wie es wirklich ist. Keiner will schlafende Hunde wecken. Also lautet die Devise: Je weniger Aufmerksamkeit, desto besser!«
»Aber wir sind doch in Europa!« Adria verstand nicht, warum Schiffbrüchige streng bewacht werden mussten. »Ich dachte, hier gibt es keine geheimen Gefängnisse.«
»Die gibt es auch nicht«, erklärte der Journalist. »Nichts davon ist geheim. Alles geschieht nach Recht und Gesetz. Hin und wieder kommt sogar eine EU-Delegation vorbei, um das Lager zu besichtigen. Trotzdem bleibt es nur eine Frage der Zeit, bis das nächste Flüchtlingsboot sinkt.«
»Aber irgendjemanden muss das doch interessieren!«, empörte sich Julian. »Man kann doch nicht zulassen, dass ständig Menschen ertrinken! Vielleicht muss man die Leute einfach nur mal richtig wachrütteln!«
»Und wenn keiner wachgerüttelt werden will?«, gab Lehner zu bedenken. Er deutete auf den Horizont. »Seht mal da rüber: Ungefähr da hinten liegt Libyen. Allein dort warten fast zwei Millionen Flüchtlinge aus ganz Afrika auf den Sprung über das Mittelmeer. Und in Tunesien oder Marokko ist es nicht viel anders.«
Während sie nachdenklich ihren Blick in die Ferne schweifenließen, stürzten sich die Möwen kreischend auf eine Ladung Küchenabfälle im Kielwasser der Fähre.
»Glaubt mir, ich weiß Bescheid«, fuhr Lehner fort. »Niemand bei uns will, dass diese Menschen kommen.«
38.
Der Anblick des Meeres überwältigte Yoba. Noch nie hatte er ein so leuchtendes Türkis und tiefes Blau gesehen. Er schirmte seine Augen gegen die Sonne ab und spähte über die ungeheure Wasserfläche. Irgendwo dort drüben lag das Ziel seiner Träume. Dort musste Europa sein!
Yoba ging in die Hocke und berührte die kleinen Wellen mit seinen Fingerspitzen. Es stimmte, das Meer schmeckte wirklich nach Salz!
»Willst du nicht doch mit uns kommen?« Yusuf trat neben ihn. Der sudanesische Krankenhauskoch hatte sein Gepäckbündel über die Schulter geworfen und eine abgewetzte Aktentasche klemmte unter seinem Arm. Wie Yoba wusste, enthielt sie die Zeugnisse seines ehemaligen Arbeitgebers, einer amerikanischen Hilfsorganisation, inklusive eines Schreibens, in dem ihm auf Englisch bescheinigt wurde, er sei ein gläubiger und somit grundehrlicher Mann.
»Wir gehen
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