Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
Vom Netzwerk:
wieder in Bewegung. Die Fahrt dauerte vielleicht zwanzig Minuten, dann bog der Pick-up von der Küstenstraße ab und rumpelte über einen Pfad in Richtung Meer. Als sie den Strand erreicht hatten, stiegen alle wieder ab und der Wagen kroch auf dem Pfad zurück zur Straße, um die nächste Fuhre zu holen. Diesmal von einem anderen Treffpunkt.
    Yoba schärfte seinem Bruder ein, unter keinen Umständen von seiner Seite zu weichen. Soweit er im Mondlicht erkennen konnte, waren sie bereits die zweite Menschenladung, die am Strand abgesetzt worden war. Einige Meter entfernt zeichneten sich die Umrisse einer weiteren Gruppe gegen die helleren Dünen ab. Ängstlich schielte Yoba auf das schwarze Meer hinaus. Das rhythmische Rauschen der Brandung klang wie dasHohngelächter fremder Wesen. Instinktiv trat er einen Schritt zurück, wobei er Chioke mit sich zog.
    »Willst du es dir nicht doch überlegen?«, flüsterte eine Stimme. Es war Babatunde. »Ich meine es doch nur gut. Die Überfahrt wird sehr gefährlich.« Er stockte. »Ehrlich gesagt habe ich kein gutes Gefühl. Aber das bleibt unter uns. Maurice und Sunday brauchen davon nichts zu wissen.«
    »Ich habe auch kein gutes Gefühl«, erwiderte Yoba und versuchte mutig zu klingen. »Aber wir müssen es einfach versuchen. Wir sind doch schon so weit gekommen. Jetzt schaffen wir auch noch den Rest!«
    »Da hast du auch wieder Recht.« Babatundes makellos weiße Zähne blitzten im Dunkeln.
    »Hey, seht mal!«, mischte sich Sunday ein. »Dahinten kommt ein Jeep! Schätze, es geht bald los.«
    »Wurde ja auch Zeit!«, erwiderte Maurice.
    Der Wagen rollte ohne Licht und beinahe lautlos durch die Dünen heran. Im Mondlicht erkannte Yoba einen nagelneuen japanischen Geländewagen mit getönten Scheiben. Die Fahrertür öffnete sich und ein überraschend junger Mann stieg aus. Er trug einen leichten Sommeranzug mit Bügelfalten und drückte ein Handy an sein Ohr.
    »Das ist Ali«, zischte Babatunde, während er sich zu Yoba hinunterbeugte. »Bei ihm kauft man die Tickets für die Boote. An dem müssen du und dein Bruder vorbei.«
    »Alis Onkel ist der Bürgermeister«, ergänzte Sunday leise. »An diesem Küstenabschnitt ist er der Big Boss.«
    Der libysche Menschenschleuser redete lautstark in sein aufklappbares Handy. Währenddessen schritt er mit einer unbekümmerten Selbstverständlichkeit durch die Grüppchender verängstigten Flüchtlinge, als wäre er der Gastgeber einer Mitternachtsparty. Yoba schätzte, dass sich am Strand inzwischen an die sechzig Personen eingefunden hatten. Darunter erkannte er auch die Schemen von Frauen und Kindern. Sie alle waren im Begriff, ihr Leben zu riskieren.
    Es war eine gespenstische Szene. Man konnte die Anwesenheit der vielen Menschen am Strand spüren, ohne sie in der Dunkelheit wirklich zu sehen. Niemand sprach ein Wort. Allein das Rauschen der Brandung und ein paar arabische Wortfetzen mischten sich in den stetig auffrischenden Wind. Dann schaltete Ali endlich sein Handy aus. Er trat nahe ans Wasser heran und gab mit einer Taschenlampe ein Zeichen. Sekunden später blinkte weit draußen auf dem Meer ebenfalls ein Licht auf.
    »Das ist unser Taxi!«, witzelte Maurice, aber die Aufregung war ihm deutlich anzumerken.
    Sunday begann erneut damit, seinen Talisman durch die Finger gleiten zu lassen und dabei leise Beschwörungsformeln zu murmeln. Nach weiteren zehn Minuten bangen Wartens war es endlich so weit. Zuerst trug der Wind nur das Tuckern eines Dieselmotors an den Strand, doch dann schälten sich die Umrisse eines Bootes aus der Nacht. Yoba konnte kaum glauben, was er da vor sich sah. Das ausrangierte Fischerboot war viel zu klein für die vielen wartenden Menschen. Yoba stieß Babatunde in die Seite, aber der rührte sich nicht. Wahrscheinlich dachte er das Gleiche.
    Sobald das schmale Boot seinen Anker geworfen hatte, sprang der Bootsführer ins Wasser und watete mit gelupfter Dschallaba ans Ufer. Kaum hatte er den Strand erreicht, entbrannte zwischen ihm und Ali ein heftiger, auf Arabisch geführter Streit.
    »Was reden die?«, wollte Yoba wissen.
    »Keine Ahnung, von uns kann auch keiner Arabisch«, erwiderte Babatunde. »Kutu konnte es, weil er zu Hause in Ghana mal einen marokkanischen Chef hatte. Er hat immer übersetzt.«
    Hinter ihnen flüsterte eine Stimme. »Der Kapitän will die Aktion abbrechen.« Das Gesicht des Mannes war im Sternenlicht nur undeutlich zu erkennen. »Der Kapitän meint, in den nächsten Tagen werde das

Weitere Kostenlose Bücher