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Der Schuldige: Roman (German Edition)

Der Schuldige: Roman (German Edition)

Titel: Der Schuldige: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Ballantyne
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machte ihm klar, wie nahe er daran gewesen war, in Sebastians Lage zu geraten. Sie hatte ihn verletzt, aber sie hatte ihn auch gerettet.
    Er fuhr sich mit der flachen Hand über seine Brust und fühlte die Knochen seines Brustkorbs. Er erinnerte sich an Charlottes unangebrachte Avancen an der Hintertür der Zellen. Er war sich nicht sicher, warum er sie so bedauerte. Daniel fühlte sich in Sebastians Namen durch Charlottes Schwäche und Verzweiflung betrogen, aber das Kind zeigte ihr nichts als Liebe.
    Er legte eine Hand unter seinen Kopf. Er konnte Sebastians Leidenschaft für seine Mutter verstehen. Als Kind war er zu sterben bereit gewesen, um seine eigene Mutter zu beschützen. Er erinnerte sich, wie er barfuß im Schlafanzug zwischen ihr und ihrem Freund gestanden hatte. Er erinnerte sich, wie er das langsame, heiße Rinnsal des Urins an seinem Bein herunterlaufen gefühlt hatte, und dennoch bereit gewesen war, alles, was kam, auf sich zu nehmen, wenn es sie nur rettete.
    Danach war er in Pflege gegeben worden.
    Er dachte an seine Mutter: an die Male an ihren Armen und ihre Stimmungsumschwünge, den schlechten Geruch ihres Atems. Jetzt bedauerte er sie, wie er Charlotte bedauerte. Seine verzweifelte, kindliche Liebe für sie war vor langer Zeit geschwunden. Erst als erwachsenem Mann war ihm klar geworden, was sie ihm angetan hatte.
    Daniel setzte sich auf und strich sich mit der Hand über das Kinn. Er schlüpfte aus seiner Dienstkleidung, dann griff er zu dem Telefon in der Diele. Er stand mit dem Hörer in der Hand unentschlossen da, ehe er die Nummer wählte. Diesmal ging Harriets Mann ran. Daniel stotterte ein bisschen, als er erklärte, wer er sei.
    »O ja, natürlich«, sagte der Mann, »ich hol sie eben.«
    Daniel presste die flache Hand gegen die Wand, während er wartete. Im Hintergrund hörte er den Fernseher laufen und den Mann sich räuspern. Daniel biss sich auf die Unterlippe.
    »Hallo?« Ihre Stimme klang müde. »Na, mein Lieber, ich bin überrascht, so schnell wieder von dir zu hören.«
    »Ich weiß, es war nur etwas, was du neulich gesagt hast. Ich habe drüber nachgedacht. Hast du einen Moment Zeit?«
    »Natürlich, worum geht’s denn?«
    Der Klang ihrer Stimme erinnerte ihn an Minnie. Er schloss die Augen.
    »Ich habe mit Normans Schwester telefoniert. Sie hat mir mehr über den Unfall erzählt …«
    Harriet sagte nichts, aber er hörte sie atmen.
    »Es ist nur, dass ich glaube, ich habe nie völlig verstanden, was Minnie durchgemacht hat, aber inzwischen verstehe ich es … Ich habe über einiges nachgedacht, was du gesagt hast …«
    Er fühlte sein Herz schlagen. Er machte eine Pause, um ihr Gelegenheit zum Reden zu geben, aber sie blieb noch immer stumm. Er fragte sich, ob er sie wieder verärgert hätte.
    »Was denn?«, sagte sie endlich. »Was habe ich denn gesagt?«
    Er holte tief Luft. »Dass sie sich selbst damit gepeinigt hätte, dass sie all die Pflegekinder bei sich aufnahm.«
    »Ich weiß, Gottes Liebe ihr.«
    Daniel machte eine Faust und boxte damit leicht gegen die Wand. »Denkst du, warum ausgerechnet mich? Warum hat sie mich adoptiert und keines von den anderen Kindern?«
    Harriet seufzte.
    »Hat sie’s getan, weil ich sie darum gebeten habe? Oder … weil ich Angst hatte, weggeschickt zu werden? Hatte sie daran gedacht, eines von den anderen Kindern zu adoptieren?«
    Er wartete, dass Harriet etwas sagte, aber sie blieb stumm. Das Schweigen dehnte sich schwer wie ein tiefer Ton auf einem Klavier mit getretenem Pedal.
    »Weißt du es denn nicht?«, sagte sie schließlich. »Sie liebte dich wie ihr eigenes. Du warst was Besonderes für sie, das warst du. Ich erinnere mich noch an das erste Jahr, als du zu ihr kamst. Sie hatte zunächst eine Menge Ärger mit dir, erinnere ich mich. Du warst ein wildes Kind. Aber sie sah etwas in dir … Ich meine, sie wollte natürlich das Beste für dich. Zu deinem eigenen Besten würde sie dich weggegeben haben, so wie sie die anderen weggab. Sie war allein, und sie sagte immer wieder zu mir, dass Kinder eine Familie brauchten – Brüder und Schwestern … einen Mann in der Nähe. Ich erinnere mich, dass sie versucht hat, für dich ein geeignetes Zuhause zu finden, und gleichzeitig verzweifelt dazu entschlossen, dich zu halten.«
    »Sie war für jeden Familie genug … für mich jedenfalls.«
    »An dem Tag, als sie dich adoptierte, rief sie mich an, nachdem du schlafen gegangen warst. Seit der Zeit vor Delias Tod hatte ich sie nicht mehr

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