Der Schuldige: Roman (German Edition)
alle einen trinken. Ich glaube, das haben wir nötig. Wir können dann darüber reden. Wir würden den Bericht des Psychologen benötigen, und dann müsste ich mein Ersuchen an Baron richten.«
Gegen acht Uhr waren sie an ihrem dritten Bier in der Bridge Bar in Gray’s Inn und kicherten in ihrer Ecke hinter dem Rü cken von Richter Baron. Der Richter saß mit einem kleinen Sherry auf der anderen Seite der Bar.
»Bei dir alles in Ordnung, Danny-Boy, eh?«, sagte Irene, beugte sich vor und strich Daniel die Haare aus dem Gesicht. Er gestattete es und ließ den Kopf nach hinten gegen die Holztäfelung sinken. »Du kommst mir in letzter Zeit wirklich ernst vor. Du bist nicht so wie beim letzten Prozess. Ich frage mich, ob dir das alles auf die Nerven geht, und ich sehe, unser kleiner Mandant mag dich … sehr.«
»Mich hasst er«, sagte Mark, Irenes Referendar.
Daniel lächelte ihn schief an. Mark war ein linkischer Bursche, der nie ein passendes Hemd zu finden schien.
Daniel pochte mit der Faust sanft auf den Tisch, sodass der Schaum auf seinem Bier bebte.
»Ich habe diesen ganzen Asperger-Kram nicht kommen sehen. Er hatte ihn ausgeschlossen – ausdrücklich ausgeschlossen.«
»Niemand von uns hat ihn kommen sehen, Danny, lass gut sein … Zum Glück haben wir uns davon erholt. Ich denke, die einzige Möglichkeit, damit umzugehen, ist, ihn von jetzt an einfach anzuerkennen. Ich denke, ich könnte ihn sogar in meinem Schlussplädoyer erwähnen, aber wir müssen das Argument wiederholen, das wir bereits vorgebracht haben, nämlich dass – auch wenn er wirklich den nicht diagnostizierten Asperger hat, oder wie er ihn sonst genannt hat – Sebastian kein Mörder ist.«
Daniel und Mark nickten.
»Die schwierigere Frage ist«, sagte Irene, schlug die Beine übereinander und lehnte sich auf ihrem Sitz zurück, »ob wir deinen Vorschlag annehmen und ihn aufrufen.«
»Ich weiß, er kriegt das hin«, sagte Daniel. »Ich hätte es sonst nicht vorgeschlagen. Er ist nicht so wie viele kleine Jungen. Er könnte es deichseln.«
»Was ist deine Meinung, Mark?«, fragte Irene.
Daniel hörte an ihrem Ton und an der Art, wie sie Mark ansah, dass sie ihn eigentlich nicht nach seiner Meinung fragte, sondern ihn testete, ihn etwas lehrte.
»Ich halte es für gefährlich. Es gibt keinen richtigen Präzedenzfall dafür. Venables und Thompson haben beim Bulger-Prozess nicht ausgesagt, weil es hieß, sie litten an posttraumatischem Stress. Mary Bell hat ausgesagt, aber das war in den Sechzigerjahren und stellt keine echte Parallele dar …«
»Ich denke, Danny hat recht, dass die Geschworenen die Geschichte von Seb hören müssen, und ich denke auch, er wird uns mit seiner Fähigkeit, sich darzustellen, überraschen. Nicht sicher ist aber, ob der Psychologe der Meinung ist, dass der Junge der Sache gewachsen ist, und schließlich, ob Baron das Ersuchen annimmt.«
»Ich denke, du solltest die Sache angehen«, sagte Daniel.
»Lass mich drüber schlafen. Was ich entwaffnend finde«, fuhr Irene fort, »aber nichtsdestoweniger hilfreich für seine Verteidigung, ist die Tatsache, dass er ein recht bezauberndes Kind ist – ob mit Asperger oder nicht. Er ist verrückt, er ist verstörend, aber er ist trotzdem bezaubernd. Und er ist sehr reif, sehr gut in erwachsener Gesellschaft.« Sie ließ ihre Hand auf Daniels Knie sinken. »Ich denke, du könntest recht haben. Wir können ihn in den Zeugenstand rufen.«
Daniel wünschte sich, Mark wäre nicht mehr da. Er lehnte sich zurück und widerstand dem Drang, nach ihrer Hand zu greifen.
» Meine erwachsene Gesellschaft liebt er nicht«, sagte Mark. Daniel lächelte wieder; Mark schien wirklich beleidigt zu sein, weil das Kind ihn zurückgewiesen hatte.
»Du leidest unter Verfolgungswahn«, sagte Irene. »Warum mag er dich so gern, Danny?«
Daniel zuckte die Achseln. »Einfach grundsätzlich liebenswert, vermutlich.«
»Hast du ihn gern?«, fragte Mark.
»Das ist komisch, er hat mir neulich dieselbe Frage gestellt.«
»Und was hast du geantwortet?«
»Ich sagte, ich mag ihn … Aber ich bin nicht sicher, ob mögen das richtige Wort ist. Einerseits … verstehe ich ihn oder denke, ich tu’s. Ob er nun Ben Stokes umgebracht hat oder nicht, wir alle wissen, dass er ein sehr gestörter kleiner Junge ist. Er braucht Fürsorge.«
Mark sah Daniel seltsam an, als hätte er etwas gesagt, womit Mark nicht einverstanden war, sich aber jetzt scheute, ihn zu kritisieren.
»Das bringt einen
Weitere Kostenlose Bücher