Der Schuldige: Roman (German Edition)
welche biologischen Details er zur Kenntnis nahm – das genaue Alter des Fetus, dass ihm die Traumata an der Gebärmutter und die Folgen für die Fruchtbarkeit seiner Mutter bewusst waren. Lebhaft schilderte er die Blutung …«
»Ich verstehe nicht, inwiefern dies einer Störung zuzuschreiben ist, Dr. Baird. Mein Mandant hoffte auf einen kleinen Bruder. Die Schwangerschaft befand sich im letzten Drittel, und er hatte, wie man erwarten würde, die Bewegungen seines kleinen Bruders am Bauch seiner Mutter gefühlt – jedenfalls erzählte er davon. Ich bin sicher, Sie sind sich bewusst, welche Fragen über die biologischen Einzelheiten diese Erfahrung bei einem Kind auslöst. Sie wissen, dass das Baby durch einen häuslichen Unfall verloren wurde …« Irene machte eine Pause. Daniel wunderte sich über ihre Wortwahl. »Sehen Sie es nicht als vollkommen verständlich an, dass bei einem Kind, das Zeuge des Sturzes und einer so späten Fehlgeburt im eigenen Elternhaus wurde, so etwas wie … morbide Neugier aufkommen konnte, wie Sie es formulieren? Musste es nicht ein bedeutendes Trauma für den Jungen und seine Familie darstellen?«
»Das ist in der Tat eine plausible Erklärung. Vorhin habe ich Fragen zu allgemeinen Aspekten der Lage beantwortet – nicht speziell zu Sebastians Fall.«
»Danke«, sagte Irene triumphierend. »Nun noch einmal – meinen Sie nach Ihrer Einschätzung des Angeklagten, dass Sebastian zu dem vorgeblichen Verbrechen fähig ist?«
Baird zögerte und genoss die Worte geradezu, ehe er sie aussprach. »Nein, ich halte ihn nicht des Mordes fähig.«
»Danke, Dr. Baird.«
Das Gericht vertagte sich zur Mittagspause, und Sebastian wurde nach unten geführt. Daniel schlenderte allein durch die Korridore vom Old Bailey und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Er war sauer auf sich. Bairds Aussage hatte er voll Misstrauen entgegengesehen, und jetzt ging er mit sich ins Gericht, weil er nicht gründlicher darüber nachgedacht hatte. Ihr erster Zeuge war umgedreht worden, aber es freute ihn, dass es Irene gelungen war, ihn wieder auf Kurs zu bringen. Er hatte sie zu erwischen versucht, als sie den Saal verließ – er wollte ihr zu ihrem Erfolg gratulieren –, aber sie musste mit ihrer Praktikantin über einen anderen Fall sprechen.
Daniel hatte keinen Hunger. Er steckte Münzen in den Getränkeautomaten, nachdem er sich für Kaffee statt Mittagessen entschieden hatte. Während er wartete, fühlte er, wie sich Fingernägel in seinen Oberarm gruben. Er drehte sich um und sah Charlotte, die den Tränen nahe war. Sie war Sebastians Alibi ab drei Uhr nachmittags am Mordtag und sollte nach der Mittagspause aussagen.
»Daniel, ich weiß nicht, ob ich das schaffe«, sagte sie. »Es ist dieser Mann , wovor ich mich fürchte – ich sehe, wie er die Leute in der Luft zerreißt . Ich habe Angst, dass ich aus dem Konzept gerate …« Daniel war klar, dass sie Jones meinte.
»Sie schaffen das schon«, sagte Daniel. Er nahm seinen Tonfall als scharf, fast streng wahr; aber er wollte nicht, dass sie die Nerven verlor, und sein Instinkt sagte ihm, dass er ihr nicht nachgeben dürfe. »Geben Sie Ihre Antworten kurz und bündig, wie wir das mit Irene besprochen haben. Sprechen Sie über das, was Sie wissen, und über nichts anderes. Nicht Sie stehen vor Gericht, vergessen Sie das nicht.«
»Aber mein Sohn. Ich sehe, wie sie mich alle ansehen, als wäre ich die Mutter von einer Art … Teufel.«
»Denken Sie überhaupt nicht daran. Er ist unschuldig, und wir werden es beweisen, aber Sie sind ein wichtiger Teil dabei. Wir brauchen Sie, um diese Sache zu gewinnen. Sie sind seine Mutter, und er braucht Sie, damit Sie sich für ihn einsetzen.«
Zweimal hatte er das schon zu Charlotte gesagt. Am liebsten hätte er sie geschüttelt. Er wusste, was es hieß, eine Mutter zu haben, die hilflos wie ein Kind war und obendrein unfähig, ihn zu beschützen.
Charlotte schaute nach oben in das hohe Gewölbe des Zentralen Strafgerichtshofs. Sie durchforschte dessen Weite wie auf der Suche nach Antworten. Als sie wieder nach unten sah, rann ihr eine schwarze Träne über die Wange, die sie mit einem bereits schwarz verfärbten Papiertaschentuch rasch wegwischte. Er erinnerte sich an die Berührung ihrer Fingernägel an seinem Bauch. Als er sie ansah, fühlte er wieder Abscheu und Mitleid so stark in sich aufsteigen, dass er wegsehen musste.
»Sie schaffen das, Charlotte«, sagte er. »Sebastian verlässt sich auf
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