Der Schuldige: Roman (German Edition)
Anhörung im Gericht Highbury Corner, und er würde Sebastian und seine Eltern sehen. Sebastians Vater war aus Hongkong zurück, und an diesem Tag würde er ihm zum ersten Mal begegnen.
Den Jungen wiederzusehen und seine Familie zu treffen, erfüllte ihn mit einem seltsam unguten Gefühl. Daniel hatte schlecht geschlafen. Sein Morgenlauf war langsam gewesen, weil er schon vor dem Beginn müde gewesen war. In zwei Nächten hintereinander war er aufgewacht, weil er von Brampton, ihrem Haus mit den schmutzigen Fußböden und den Hühnern draußen im Hof geträumt hatte.
Ihre Trauerfeier würde in ein paar Tagen abgehalten werden, aber er fühlte noch nicht ihren Verlust.
Als er bei der Sicherungseinrichtung ankam, warteten die Crolls bereits auf ihn. Daniel hatte darum gebeten, sich mit ihnen zu treffen, bevor er mit Sebastian redete. Sie saßen in einem hellen Raum mit hohen, kleinen Fenstern an einem Tisch.
»Schön, Sie kennenzulernen, Daniel«, sagte Sebastians Vater, der durch den Raum mit großen Schritten auf ihn zukam, um ihm die Hand zu drücken. Er war einige Zentimeter größer als Daniel, und der streckte sich und drückte die Schultern nach hinten, als er die Hand des Älteren ergriff. Sie war trocken und warm, und doch brachte ihre Kraft Daniel dazu, leicht nach Luft zu schnappen.
Kenneth King Croll war kräftig und schwer: Bauch und Hängebacken, rötlich braune Haut und dichtes dunkles Haar. Er stand da, die Hände auf den Hüften, wobei er dem Becken eine leichte Neigung erlaubte, als wolle er deutlich machen, dass er ein besserer Mensch als Daniel sei. Die Besenreiser auf seinen Wangen waren das Produkt bester Weine und Whiskys. Seine Arroganz und sein Reichtum waren gewaltig. Alle Energie in dem Raum saugte er an sich wie ein Strudel. Charlotte saß nicht weit von ihm entfernt, und ihre Augen suchten ihn jedes Mal, wenn er sprach oder seine Hände hob. Daniel schraubte die Kappe von seinem Füller ab und schob seine Visitenkarte über den Tisch. Kenneth musterte sie mit einem leichten Kräuseln seiner vollen Lippen.
Charlotte brachte dünnen Kaffee aus einem Automaten. Ihre Aufmachung war noch immer makellos; ihre langen Nägel hatten jedes Mal, wenn Daniel sie sah, eine andere Farbe. Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie die Tassen auf den Tisch stellte.
»Ich hasse es einfach, dass er hier drin ist«, sagte sie. »Dieser Bau ist schlichtweg abscheulich. Eines der Kinder hier hat letzte Woche Selbstmord begangen, haben Sie davon gehört? Hat sich aufgehängt. Darüber darf man gar nicht nachdenken . Haben Sie davon gewusst, Daniel?«
Daniel nickte. Sein eigener Mandant, Tyrel, hatte versucht, sich bald nach der Verurteilung umzubringen. Mit siebzehn war der Junge einfach in eine neue Jugendstrafanstalt verlegt worden, und Daniel fürchtete, dass er es wieder versuchen würde. Selbst Jugendarrestanstalten boten nicht die Betreuung, die Jugendliche nach Daniels Ansicht brauchten.
Mit zitternden Fingern berührte Charlotte ihre Lippen, während sie darüber nachdachte.
»Er wird’s überleben«, sagte Kenneth. »Daniel, reden Sie weiter, wie ist jetzt die Lage?«
»Ich möchte einfach nicht, dass er hier ist«, flüsterte Charlotte, als Daniel seine Notizen durchblätterte. Kenneth schickte ihr ein missbilligendes »Ts-ts« hinüber.
Im Angesicht der Crolls spannten sich Daniels Muskeln an. Er spürte, dass unter dem farbigen Lack, der Seide und edlen italienischen Wolle mit dieser Familie irgendwas nicht stimmte.
»Ich wollte mit Ihnen nur noch ein paar Dinge besprechen, ehe wir Sebastian sehen. Ich wollte … Sie warnen, ich vermute, es könnte eine erhebliche Medienaufmerksamkeit geben. Wir müssen das beachten, uns eine Strategie ausdenken und sie strikt zu befolgen versuchen, sodass wir diese Belästigung so gering wie möglich halten können. Selbstverständlich wird seine Identität nicht preisgegeben … Wir warten noch immer auf die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft, und sobald wir die haben, möglicherweise morgen oder so, können wir die Anwaltschaft entsprechend instruieren. Es wird für Sie und Sebastian eine Gelegenheit geben, die Strafverteidigerin kennenzulernen – die Kronanwältin Irene Clark. Sie ist zu der Anhörung vor dem Jugendgericht gekommen, aber ich glaube, Sie haben sie nicht gesehen.«
»Wie alt sind Sie, mein Lieber?«, fragte Kenneth Croll. Er hielt Daniels Visitenkarte zwischen Zeigefinger und Daumen und tippte damit auf den Tisch.
»Spielt das
Weitere Kostenlose Bücher