Der Schuldige: Roman (German Edition)
Jungen zu beschützen, zu retten. Sebastian war genauso alt, wie Daniel es gewesen war, als er zum ersten Mal in Minnies Küche gestanden hatte. Aber jetzt war Minnie tot, und Daniel fühlte sich ausgelaugt. Er war sich nicht sicher, ob er für den Fall bereit war.
»Also, nimmst du ihn zurück?«, fragte Veronica. Ihre klare Stimme war eindringlich. »Ich hab mir den Schriftsatz angesehen, und der klingt gewichtig.«
»Natürlich nehme ich ihn zurück«, sagte Daniel, aber die Worte wurden ihm von den Lippen weggerissen. Die Autobahn grollte hinter ihm, und er drehte sich von ihrem herzlosen, abnormen Lärm weg.
»Fantastisch. Rufst du morgen Irenes Kanzlei an? Und vergewisserst dich, ob sie und ihr Referendar noch verfügbar sind? Ich hätte mich ja schon an sie gewandt, aber ich wollte erst bei dir nachfragen.«
Daniel fuhr schnell, um den Norden hinter sich zu lassen. Er machte kurz an der Kanzlei halt, um sich seine Notizen zum Fall Sebastian zu holen. Es war spät, und als er durch die surreal stillen Räume des Büros spazierte, war er erleichtert, dass keiner seiner Kollegen da war.
Der Tag ging zu Ende, als er endlich nach Bow zurückkehrte. Er kaufte sich ein Fertigessen in South Hackney und fand schließlich nicht weit von seiner Wohnung, in der Old Ford Road, einen Parkplatz. Die Sonne ging jenseits des Victoria Parks unter, und in dem Teich mit seiner Fontäne, die wie eine wässerige Sonnenuhr aussah, spiegelte sich der blutrote Himmel. Er roch die Überreste von Grillfesten in der Luft, machte dann den Kofferraum seines Wagens auf, holte den Karton heraus, den Cunningham ihm gegeben hatte, und ging mit gesenktem Kopf auf seine Wohnung zu, den Karton in der einen und das Fertiggericht und seine Schlüssel in der anderen Hand.
Er fühlte sich seltsam reduziert, spürte noch immer das leere Farmhaus in seinem Innern, das unter ihrer Abwesenheit ächzte. Wieder hörte er Töne, schmerzlich wie freiliegende Knochen. Sie klangen kalt und hart.
Er stellte den Karton auf den Küchentisch, machte ihn aber noch nicht auf, um zu sehen, was darin war. Stattdessen ver zehrte er rasch sein Curry, dann duschte er. Er machte die Dusche zu heiß und lehnte sich in den Duschstrahl, indem er sich mit beiden Händen an der Brause festhielt. Seine Haut brannte, als er sich abtrocknete. Er stand nackt im Badezimmer und betrachtete im Spiegel sein Gesicht, während seine Haut abkühlte. Dabei dachte er an den Turmfalken, den er über der Bramptoner Heide hatte schweben sehen. Auch er hatte das Gefühl, allein und unnachgiebig zu sein, seine Flügel steif zu machen und auf der Thermik nach oben zu steigen.
Die letzten zwei Tage hatten ihn entmutigt, aber er wusste nicht, ob es die Furcht vor dem Fall des Jungen und allem war, was damit zusammenhing, oder Furcht vor ihrem Verlust – Furcht vor dem Leben mit dem Wissen, dass sie tot war; er musste sie nicht mehr ignorieren.
Verlust. Daniel dachte darüber nach, als er sich mit der Hand über das Kinn fuhr und beschloss, sich nicht zu rasieren. Verlust. Er schlang sich ein Handtuch um die Hüfte und atmete aus. Verlust. Er war wie alles andere. Man konnte sich darin üben. Er spürte ihn fast nicht mehr. Seine Mutter war tot und jetzt auch Minnie; er würde damit zurechtkommen.
Daniel zog sich an und begann, in den Unterlagen zum Fall Sebastian herumzublättern. Er hoffte, dass Irene noch frei und bereit wäre, die Sache zu übernehmen. Erst einmal würde er ihre Sekretärin anrufen. Er und Irene hatten eng an mehreren Fällen zusammengearbeitet, vor allem an der Bandenschießerei um Tyrel im letzten Jahr. Die Verurteilung des Jungen hatte sie beide niedergeschmettert.
Das letzte Mal hatte er sie im März auf der Party gesehen, auf der ihre Ernennung zur Kronanwältin gefeiert wurde, allerdings hatte er kaum zwei Worte mit ihr reden können. Sie war Londonerin, in Barnes geboren und einige Jahre älter als Daniel, aber sie hatte Jura in Newcastle studiert. Sie versuchte gern, ihn mit ihren Geordie-Kenntnissen zu beeindrucken. Daniel mochte sich nicht vorstellen, dass jemand anderer Sebastian verteidigte.
Als Daniel, allein in seiner Wohnung, feststellte, dass er nicht schlafen konnte, machte er sich an die Arbeit. Seine Sekretärin hatte bereits die Bänder der Videoüberwachung durchgesehen, die der Verteidigung überstellt worden waren. Daniel schaute sie sich noch einmal an für den Fall, dass man etwas übersehen hatte. Tagsüber waren die Kameras meistens auf
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