Der Schuldige: Roman (German Edition)
gehalten hatte, und an ihren harten, unerschrockenen Blick. Es war das Erste, was er an ihr liebte: ihre Furchtlosigkeit.
Daniels Gedanken wandten sich Sebastian zu. Er fragte sich, was der Junge in ihm sah, warum er darauf bestand, ihn als seinen Anwalt zu haben. Noch einmal strich er mit seinem Daumen über den Schmetterling, dann legte er ihn vorsichtig auf den Kaffeetisch.
10
»Guck mal«, sagte Daniel und winkte Minnie vom Hof aus zu. »Ich füttere ihn!«
Er stand da, die Füße nah beieinander, und fütterte den Ziegenbock Hector mit einer Mohrrübe. Er war mittlerweile fast ein Jahr bei Minnie und fühlte sich in dem morastigen Hinterhof und der vollgestopften Küche seltsam wohl. Er erledigte gern seine Aufgaben und er mochte die Tiere; allerdings begann Hector gerade erst, ihn zu akzeptieren.
Sie klopfte ans Fenster. »Sei vorsichtig! Er kann tückisch sein.«
In der kleinen Bramptoner Schule lief es auch besser für ihn. Er hatte ein paar Mal Strafarbeiten aufbekommen und einmal Haue mit dem Riemen – weil er ein Pult umgestoßen hatte –, aber er hatte auch eine Goldmedaille für Englisch und eine silberne für Mathe erhalten. Minnie war gut in Mathe und half ihm gern bei den Hausaufgaben. Die hübsche Miss Pringle, seine Lehrerin, mochte ihn, und er gehörte zur Fußballmannschaft.
Minnie pochte noch mal gegen die Scheibe. »Pass auf deine Finger auf!«
Daniel hörte das Telefon klingeln, und Minnie verschwand vom Fenster. Es war Mai, und Butterblumen und Gänseblümchen wuchsen zwischen den langen Grashalmen rund um das Haus. Schmetterlinge schwebten schwindelerregend von Blüte zu Blüte, und Danny sah ihnen zu, während die Mohrrübe immer kürzer wurde. Da er sich an Minnies Mahnung erinnerte, zog er die Hand weg, als der Stummel zu kurz wurde. Hector senkte den Kopf und fraß die Mohrrübe samt Strunk und allem. Vorsichtig streichelte Daniel das warme kurze Fell der Ziege, zog aber jedes Mal seine Hand weg und wich zurück, wenn der Bock seinen Kopf senkte.
»Später bring ich dir noch eine«, sagte Daniel.
Inzwischen kam er gut mit Minnie aus. An den Wochenenden hatten sie Spaß zusammen. Eines Tages nach dem Markt hatten sie im Wohnzimmer aus dem Klapptisch und einem Stapel Laken ein Zelt gebaut. Sie hatte ihr altes Schmuckkästchen heruntergeholt, damit es als Schatz diente, und war zu ihm hineingekrochen, und dann hatten sie so getan, als wären sie reiche Beduinen. Zum Tee machte sie ihm Fischstäbchen, die sie im Zelt mit den Händen aßen und in Ketchup tauchten.
An einem anderen Tag hatten sie Piraten gespielt, und sie ließ ihn mit verbundenen Augen von einer Fußbank in ihrem Wohnzimmer über die Planke gehen. Er liebte ihr Lachen, das immer mit drei riesigen Brüllern begann, dann zu Gackern und Kichern überging und dabei mehrere Minuten andauerte. Allein sie lachen zu sehen, brachte ihn jetzt zum Lächeln.
Letztes Wochenende hatten sie sein Zimmer renoviert, und Minnie hatte ihn die Farbe aussuchen lassen. Er wählte ein Hellblau für die Wände und leuchtendes Blau für seine Tür und die Scheuerleisten. Er hatte zusammen mit ihr malen dürfen, und sie hatten das ganze Wochenende bei laufendem Radio die Rosenknospen abgerissen und die Wände gestrichen.
Die Tür zum Haus knallte zu, und Minnie stand da, eine Hand an ihrer Stirn.
»Was ist los?«, fragte Daniel.
Er kannte sich inzwischen in Minnies Mienenspiel aus. Oft machte sie ein mürrisches Gesicht, wenn sie ausgesprochen fröhlich ihrer Arbeit nachging. Wenn sie besorgt oder wütend war, verschwand ihr Stirnrunzeln, und ihre Lippen senkten sich leicht nach unten.
»Komm rein, mein Junge, komm rein. Tricia hat eben angerufen. Sie kommt dich abholen.«
Trotz des warmen Sommerwinds und der Tatsache, dass er bei seinen nachmittäglichen Tätigkeiten geschwitzt hatte, fror Daniel plötzlich. Die Sonne stand noch immer hoch an einem Himmel von schmerzhaftem Blau, aber er fühlte die Schatten herankriechen, als hätte sein eigenes Inneres sie über den Hof gebreitet und die Farben der Schmetterlinge verdunkelt, die mit Blütenblatt und Knospe spielten.
Daniel legte wieder eine Hand auf Hector, und der alte Ziegenbock sprang erschrocken davon, so weit sein Strick im angetrockneten Matsch des Hofs reichte.
»Nein, ich gehe nicht. Ich will nicht weg … Ich will …«
»Nun mal halblang, ja? Ich denke nicht, dass sie dich woanders hinbringen will, aber es ist ein Treffen mit deiner Mum verabredet.«
Minnie stand in
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