Der Schuldige: Roman (German Edition)
Fersen und dachte über die Worte bei Minnies Trauerfeier nach: Übergeben. Leib. Elemente. Irdisch. Staub. Asche. Vertrauen. Gnade. Er erinnerte sich, als jüngerer Mann vor diesem Grab gestanden und sich verletzt gefühlt zu haben, weil nicht sein eigener Name in den billigen Marmor graviert war. Er hätte gewollt, dass dort stand: Für Daniel Hunter von seiner liebevollen Mutter . Aber war sie eine liebevolle Mutter gewesen? Hatte sie ihn überhaupt geliebt?
Lange war er über diesen Tod wütend gewesen, aber heute verstand er nicht mehr, warum er so empfunden hatte. Jetzt stand er da, unberührt von der Tatsache, dass sein Name nicht auf dem Grabstein stand. Er wusste, dass er zur Hälfte dieselbe DNA wie die Knochen unter seinen Füßen besaß, aber dieser Knochen bedurfte er nicht mehr.
Er dachte an Minnie, geopfert und über Bord geworfen. In seinem Inneren roch er sie noch immer, fühlte das Bäurische ihrer Strickjacke an seiner Wange und sah die Freude in ihren wässerigen blauen Augen. Wie der Gegenwart selbst würde er ihr nachjagen, flüchtig, wie dem nie zu erhaschenden Jetzt . Jahrelang hatte er sie gemieden, doch jetzt war sie weg: nicht in dem alten Haus, nicht auf der Farm, nicht auf dem Friedhof, nicht in den Augen ihrer Schwester. Minnie war von der Erde verschwunden, ohne dass auch nur ein Stück Marmor stumm von ihrem Dahinscheiden berichtete.
Daniel erinnerte sich, an diesem Grab geweint zu haben. Jetzt stand er hier mit trockenen Augen und den Händen in den Hosentaschen. An Minnie konnte er sich leichter erinnern als an seine eigene Mutter. Er war so klein gewesen, als er zuletzt bei seiner Mutter gelebt hatte. Jahrelang waren ihre Zusammenkünfte stressig und kurz gewesen. Er war zu ihr gelaufen und wieder weggezerrt worden.
Bei Minnie war er geblieben. Bei ihr war er als Kind, als Jugendlicher und als junger Mann gewesen. Jetzt, da sie fort war, fühlte er sich seltsam gelassen, aber einsam: einsamer als vor der Nachricht von ihrem Tod. Es war dies, was er nicht verstand. Sie war ihm schon vor Jahren verloren gegangen, aber erst jetzt fühlte er ihren Verlust.
Verluste sollte man nicht gegeneinander aufwiegen, dachte er. Und doch empfand er, wenn er jetzt über den Verlust seiner beiden Mütter nachdachte, den Verlust von Minnie als den größeren.
Unterwegs nach London hielt er an der Tankstelle am Donnington Park. Er tankte, holte sich einen Kaffee, und dann überprüfte er zum ersten Mal, nachdem er weggefahren war, sein Handy.
Er fand drei verpasste Anrufe aus der Firma. Während er an seinem lauwarmen Kaffee nippte und Benzindämpfe einatmete, rief er Veronica an. Er saß mit offener Tür auf dem Fahrersitz und horchte auf das heisere Flüstern der Autobahn hinter ihm.
»Geht’s dir gut?«, fragte Veronica. »Wir haben versucht, dich zu erreichen. Du wirst es nicht glauben … Nebenbei, wie war deine Trauerfeier, es war doch niemand Nahes, oder?«
Daniel räusperte sich. »Nein … nein, was ist passiert?«
»Du bist nicht an dein Telefon gegangen!«
»Jaaa, ich … hatte es abgeschaltet. Ich hatte Dinge zu erledigen.«
»Du kriegst den Fall Sebastian zurück, wenn du willst. Willst du ihn übernehmen?«
»Was heißt das?«
»Kenneth King Croll hat gute Beziehungen.«
Daniel fuhr sich mit der Hand übers Kinn. Er hatte sich nicht rasiert und spürte die Bartstoppeln in der Handfläche. »Der Fall landete bei McMann Walkers, aber … ob du’s glaubst oder nicht, Sebastian wollte nicht mit ihnen zusammenarbeiten. Er kriegte einen wahnsinnigen Wutanfall und sagte, er wollte nur dich als Anwalt!«
»Warum wollte Seb nicht mit ihnen zusammenarbeiten – was haben sie denn getan?«
»Na ja, der Anwalt von McMann Walkers besuchte Sebastian einen Tag, nachdem du ausgeschieden warst. Ich kenne ihn, Doug Brown, offenbar ist er ein alter Schulfreund von Croll … Wie dem auch sei, ich kenne nicht alle Details, aber Sebastian war ihm gegenüber sehr unverschämt. Seine Eltern schritten ein, aber da begann Sebastian zu schreien und zu brüllen, er wolle dich wiederhaben. Er verlangte ausdrücklich dich – als seinen Anwalt, Daniel.« Veronica zwitscherte vor Lachen. »Schließlich war es so schlimm, dass McMann Walkers den Fall ablehnten. Und jetzt ruft mich dieser King-Kong-Macker oder wie er auch heißt … nonstop an. Sie wollen dich zurück, um Sebastian bei Laune zu halten.«
Daniel trank seinen Kaffee aus und biss sich auf die Unterlippe. Er hatte den Drang verspürt, den
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