Der Schuldige: Roman (German Edition)
Liebling«, flüsterte sie, als er gleichmäßig zu atmen versuchte. »Es ist alles gut. Ich bin nicht deine Mum. Ich kann nie deine Mum sein, aber ich bin trotzdem da. Ich werde immer da sein, wenn du mich brauchst.«
Er war zu müde, um sich aufzusetzen oder ihr zu antworten, aber zum Teil war er froh, dass sie da war, und er schlang seine Arme enger um ihre Hüften. Als Reaktion drückte sie ihn ein bisschen fester an sich.
Nach einer Weile konnte er wieder richtig atmen. Ganz langsam ließ sie ihn los. Später, zeitig im Bett, versuchte er, sich zu erinnern, ob ihn schon früher einmal jemand so an sich gedrückt hatte. Die meisten Leute kamen ihm nicht so nahe. Seine Mutter hatte ihn geküsst. Ja, sie war ihm mit den Fingern durch die Haare gefahren. Sie hatte ihn ein- oder zweimal getröstet, als er sich wehgetan hatte.
Daniel half Minnie auf; dann versuchten sie beide, das Zimmer wieder in Ordnung zu bringen. Das Fenster war eingeschlagen und der Spiegel kaputt. Minnie seufzte, als sie die Zerstörung überblickte.
»Es tut mir leid. Ich wollte sie nicht kaputt machen«, sagte er. »Ich mach sie wieder heil für dich.«
»Ich wusste gar nicht, dass du so viel Geld hast«, sagte sie und lachte.
»Ich könnte mir welches besorgen.«
»Meinst du damit wieder deine Karriere als Taschendieb? Da bin ich anderer Meinung.« Sie bückte sich, um das Schmuckkästchen vom Fußboden aufzuheben. Sie beugte sich vor und reckte ihren Hintern in die Höhe, sodass ihr Rock hinten nach oben rutschte und er ihre weißen Beine und ihre Männersocken sehen konnte, die ihr bis an die Knie gingen. Er sah, dass er sie erschöpft hatte. Ihre Wangen waren rot, und Schweiß stand ihr auf der Lippe.
»Ich wickle Papier rum, so.«
»Papier rum, ach wirklich? Du kannst mir an den Wochenenden am Marktstand helfen. Mir helfen, die Eier auszuliefern. Dafür werde ich dir Taschengeld zahlen.«
»In Ordnung.«
»Ja, aber wohlgemerkt, ich brauche jemanden, der vorsichtig ist. Kannst du vorsichtig mit den Eiern umgehen?«
»Ich werde vorsichtig sein. Ich verspreche es.«
»Na, warten wir’s ab. Wir müssen es abwarten.«
9
Daniel fuhr schneller als erlaubt, die Fenster hatte er wieder heruntergekurbelt. Er genoss die frische Luft und atmete tief durch, was sein Zwerchfell weitete. Dabei warf er einen mürrischen Blick auf die Straße und versuchte dahinterzukommen, warum er bei der Trauerfeier so aufgeregt und dann auf Cunningham so wütend gewesen war. Das war kindisch und emotional gewesen. Er schalt sich aus, indem er beim Fahren leise vor sich hin fluchte.
Jetzt, da er wieder unterwegs war, fühlte er sich besser: entspannt, aber müde. Brampton war wie ein Schlafmittel; die Ab lenkungen durch Arbeit erschienen noch weit weg. Wieder holte er tief Luft und überlegte, ob es der Geruch nach Jauche war, der ihn einschläferte. Er hätte die M6 geradewegs nach London nehmen sollen – er wollte vor dem Dunkelwerden zu Hause sein –, aber er fuhr mit offenem Fenster einfach so vor sich hin, während er den Geruch der Felder in sich aufnahm, die kleinen Häuser betrachtete und sich an Orte erinnerte, die er als Kind besucht hatte.
Fast zufällig fand er sich auf der A69 wieder, und dann saß er kurz vor Newcastle in einem Stau fest. Daniel hatte den Umweg nicht geplant, aber es gab da etwas, was er wiedersehen wollte; etwas, was er tun musste, heute ganz besonders.
Daniel steuerte in die Stadt hinein, an der Universität vorbei und auf die Jesmond Road. Er fuhr hier viel langsamer, fast so, als hätte er Angst anzukommen.
Als er aus dem Wagen stieg, war die Sonne hinter Wolken versteckt. Er dachte an die lange Fahrt, die vor ihm lag, doch er wollte bleiben und sie noch einmal besuchen.
Der Eingang zum Friedhof war ein mütterlicher Bogen aus rotem Sandstein, der ihn unwillkürlich in dessen Tiefe zog. Er wusste, wohin er gehen musste; er war dem Weg mit jugendlichen Schritten gefolgt zu der Stelle, an der sie beerdigt war.
Daniel war überrascht, wie schnell er ihren Grabstein fand. Dessen weißer Marmor war inzwischen verfärbt und fleckig. Die schwarz aufgemalten Buchstaben ihres Namens waren fast völlig abgeblättert, sodass von Weitem ihr Name Sam Gerald Hunt lautete statt Samantha Geraldine Hunter . Daniel seufzte, die Hände in den Hosentaschen.
Es war ein schlichtes Kreuz mit Kies an seinem Fuß, um so die Notwendigkeit von Blumen, Unterhalt und Liebesbeteuerungen zu verneinen.
Er wippte vor dem Grab auf seinen
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