Der Schuldige: Roman (German Edition)
hundertfünfundzwanzig eingenommen haben, gebe ich dir ’nen Anteil.
Daniel sog den Atem ein und lächelte.
»Die Kunden scheinen dich zu mögen, also biste es wert. Es ist, weil du hübsch bist. Sieh dir bloß Jean an. Sie war völlig bezuckert von dir. Normalerweise kann ich ihr kaum ein Lächeln entlocken.«
Der Wind wehte das Schild um, auf dem Flynn Farm – Frische Erzeugnisse stand. Daniel richtete es wieder auf, dann drehte er sich zu Minnie um und zog seine Ärmelbündchen über seine Hände.
»Ich mag sie nicht.«
»Warum denn nicht?«, fragte Minnie. Sie war gerade damit beschäftigt, die Umsätze in ihr Notizbuch einzutragen. »Die alte Jean würde keiner Fliege was zuleide tun.«
»Sie sagt schlechte Dinge über dich«, sagte Daniel, eine Hand in der Tasche, und sah zu Minnie hoch. »Du solltest sie hören. Sie redet zu den Leuten im Laden über dich.«
»Ach, lass sie reden, wenn sie will.«
»Alle tun’s. Alle Leute in den Läden und die Kinder in der Schule. Alle sagen, du bist eine Hexe und hast deinen Mann und deine Tochter umgebracht …«
Daniel sah, dass Minnies Gesicht weich, entspannt und teigig wurde, als wäre sie tot. Ihre Backen hingen schwerer als sonst herunter. Sie sah älter aus.
»Jean sagt, du hast einen Besenstiel und so Zeugs, und Blitz ist dein Schutzgeist.«
Minnie lachte, sie brach in ein dröhnendes Gelächter aus und beugte sich dabei nach hinten. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch und die andere auf den Tisch, um sich zu stützen.
»Sie machen sich doch bloß lustig über dich. Weißt du das nicht?«
Daniel zuckte die Achseln und wischte sich die Nase mit dem Ärmel. »Weiß nicht. Also hast du deinen Mann nicht ermordet mit einem Schürhaken vom Feuer?«
»Nein, Liebling, das habe ich nicht. Manche Leute lieben Dramen so sehr, dass sie sich Sachen ausdenken müssen, weil das wirkliche Leben für sie nicht interessant genug ist.«
Daniel sah zu Minnie hoch. Sie hauchte auf ihre Hände und stampfte mit den Füßen. Ihr Geruch war für ihn inzwischen wohltuend, obwohl er nicht wusste, warum. Teilchen von ihm vertrauten ihr, aber dann fing der Wind wieder an zu wehen, trug sie davon, und er war im Zweifel.
Die Sozialarbeiterin hatte ihm bestätigt, dass es mit seiner Mutter keinen Kontakt mehr geben würde. Er lief noch zweimal nach Newcastle, nachdem er das Huhn getötet hatte, um sie irgendwie ausfindig zu machen, aber neue Leute wohnten jetzt in der alten Wohnung seiner Mutter. Er fragte die Nachbarn, aber niemand wusste, wo sie hingegangen war. Der Mann, mit dem er nach dem Brand gesprochen hatte, sagte, seine Mutter sei wahrscheinlich tot.
Die Sozialarbeiterin Tricia hatte zu Minnie gesagt, dass Daniel auf der Adoptionsliste stehe und »jederzeit gehen« könne. Jetzt, mit der Bedrohung wieder eines neuen Zuhauses, fand Daniel allmählich Gefallen an der Farm und versuchte, sich an ständig zu benehmen. Tricia hatte bestätigt, dass er, wenn er wolle, mit seiner Mutter Kontakt aufnehmen dürfe, wenn er achtzehn wäre, aber bis dahin seien ihm keine Informationen über sie gestattet.
»Also, wie sind denn dein Mann und deine Tochter gestorben?«, fragte er, blickte zu ihr auf und leckte sich die Lippen, die in der Kälte trocken geworden waren. Zunächst sah sie ihn nicht an, allzu sehr damit beschäftigt, den Stand in Ordnung zu bringen und ihren Mantel enger um sich zu ziehen. Aber dann begegnete sie seinem Blick. Ihre Augen waren das härteste an ihr, fand Daniel. Ihr wässeriges Blau war so anders als seine eigenen dunklen Augen. Manchmal schmerzte es, sie anzusehen.
»Ein Unfall.«
»Alle beide?«
Minnie nickte.
»Was ist passiert?«
»Wie alt bist du, Danny?«
»Zwölf.«
»Ich weiß, du hast harte zwölf Jahre hinter dir. Ich möchte keine Vermutungen darüber anstellen, was für schreckliche Dinge du gesehen oder getan hast oder dir angetan worden sind. Ich möchte aber, dass du weißt, dass du mit mir über alles sprechen kannst, was dir widerfahren ist. Ich werde kein Urteil über dich fällen. Du kannst mir erzählen, was immer du möchtest. Aber wenn du älter wirst, wirst du vielleicht bemerken, dass es einige Dinge gibt, über die man nicht ohne Weiteres sprechen kann. Vielleicht ist es gut, über sie zu reden, aber gut macht es nicht einfach. Vielleicht gibt es einige Dinge, über die auch du im Moment nicht reden magst … Dinge, die mit deiner Mutter oder anderen Leuten geschehen sind. Du kannst mit mir darüber reden, aber wenn du
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