Der Schuldige: Roman (German Edition)
jünger, als Daniel sich ihn vorgestellt hatte. Seine Haut war bleich, und von seiner Nase an aufwärts breiteten sich Sommersprossen über sein Gesicht und die Kopfhaut, auf der sich sein rötlich blondes Haar lichtete. Er wirkte nervös.
»Möchten Sie Tee oder Kaffee?«, fragte Dr. Baird und zog seine dünnen, blassen Augenbrauen in die Höhe, als hätte einer von ihnen eine interessante Bemerkung gemacht.
Daniel lehnte ab, aber Mark räusperte sich und bat um einen Tee.
Sein Bericht war unvoreingenommen und professionell ge wesen und hatte dennoch persönliche Einblicke in Sebastians Charakter geboten. Im Sinne der Verteidigung konnte er dazu beitragen, Sympathie für Sebastian zu gewinnen, aber Daniel und Irene hatten noch nicht entschieden, wie oder ob über haupt er benutzt werden sollte. Dr. Baird hatte Sebastians Eignung untersucht, eine Verhandlung vor einem Erwachsenengericht durchzustehen, aber Daniel hatte sich gewünscht, dass er Sebastian als den kleinen Jungen zeigte, der er war, mit einer minimalen Bereitschaft für die Unbilden des Gerichtssaals. Der Psychologe hatte Sebastian als intelligent und redegewandt dargestellt, und Daniel konnte nur hoffen, dass diese positiven professionellen Ansichten imstande wären, den Aussagen der Zeugen der Staatsanwaltschaft – dass Sebastian ein gefühlloser Rabauke sei – entgegenzuwirken und bei den Geschworenen Sympathie für ihn zu wecken. Natürlich hoffte Daniel, dass Sympathie gar nicht nötig wäre und dass die Fakten allein die Unschuld des Jungen beweisen würden.
Dr. Baird hatte, bewaffnet mit Püppchen und Filzstiften, Sebastian im Parklands House aufgesucht. Daniel war von seinem Bericht gefesselt gewesen, nicht nur wegen dessen möglicher Bedeutung für den Prozess, sondern auch davon, was er über Sebastian verriet.
Während Mark an seinem Tee nippte – die Tasse zitterte auf ihrer Untertasse –, machte Baird es sich in seinem Sessel bequem, faltete die Hände auf seinem drallen Bauch und gab Erläuterungen über Sebastian von sich.
»Er ist hochintelligent, wie ich in dem Bericht erwähne – ein IQ von 140 –, und er war sich fraglos im Klaren darüber, wer ich war und was ich wollte …«
Daniel fand, dass Baird verärgert klang.
»Also, weißt du, warum ich hier bin?«, fragte der Psychologe.
»Ja«, sagte Sebastian. »Sie möchten ins Innere meines Kopfes sehen.«
»Er zeigte zweifellos eine … verblüffende Reife für einen Jun gen seines Alters, und er war sich ganz sicher, unschuldig zu sein.« Baird riss die Augen weit auf, als er das Wort aussprach. Daniel war sich nicht sicher, was der Mann mit diesem Mienenspiel ausdrücken wollte: War er beeindruckt oder glaubte er ihm nicht?
»Weißt du, welches Verbrechen dir zur Last gelegt wird, Sebastian?«
»Mord.«
»Und was meinst du dazu?«
»Ich bin unschuldig.«
Der Junge kenne den Unterschied, sagte Baird zu Daniel und Mark. Er sei sich im Klaren über den Unterschied zwischen richtig und falsch und wisse, dass Mord – in der Tat eine Gewalttat – falsch sei.
Daniel fragte sich, ob Sebastian wirklich den Unterschied begreife, oder ob er nur gemäß den Erwartungen des Psychologen antwortete. Daniel dachte an seine eigene Kindheit und seine eigenen Untaten, von denen einige kriminell gewesen waren. Er erinnerte sich, dass er sich über die Unmoral dieser Taten nicht im Klaren gewesen war, nur Berechnung, Absicherung und Rache gekannt hatte. Mit Minnies Hilfe hatte er den Unterschied begriffen.
Daniel blätterte den Bericht bis zu den Abschnitten durch, die er sich vor dem Treffen angestrichen hatte. »Dr. Baird, Sie haben geschrieben, Sie wissen nicht, wie Sebastian in einer emotionalen Notlage reagieren würde, aber Sie denken, dass er selbst dann wissen würde, was er tut, und die moralischen Folgen kennt – verzeihen Sie, wenn ich Sie frei zitiere. Was genau bedeutet das?«
»Nun, es bedeutet, dass ich zweimal mit Sebastian zusammengekommen bin und mit innerlicher Überzeugung diese Beurteilung von ihm abgebe – dass er den Unterschied zwischen richtig und falsch kennt –, aber mir ist bewusst, dass eine längere Untersuchung seines Verhaltens notwendig wäre, um mir endgültig schlüssig über sein Verständnis von Moral zu werden. Und sein Verhalten ändert sich unter starkem emotionalem Druck.«
»Ich verstehe – Sie schreiben, er ist …« Daniel blätterte um und las vor: »… außerstande, mit starken Gefühlen umzugehen und sie zu begreifen, und er
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