Der Schuldige: Roman (German Edition)
neigt zu Wutanfällen und Gefühlsausbrüchen. Was bedeutet das hinsichtlich seiner Fähigkeit, ein Gewaltverbrechen zu begehen?«
»Ach, sehr wenig – ich fand ihn intellektuell reif, sogar früh reif, aber wie ich dargelegt habe, erschien er mir emotional unreif. Wir streiften ein paar beunruhigende Themen, und er wurde sichtlich aufgebracht, aber sicherlich in keiner Weise aggressiv.«
Mit gerunzelter Stirn überflog Daniel den Bericht von Neuem: »Sie stellen fest, dass es ein Anzeichen von Missbrauch gab?«
»Aber ja«, sagte Baird, griff zu seiner Akte und konsultierte seine Notizen. »Zweifellos ehelicher Missbrauch im Elternhaus. Wir haben ein paar Rollenspiele mit Puppen unternommen, auf die sich Sebastian zunächst nicht einlassen wollte … aber schließlich interagierte er doch mit den Puppen. Er fasste es nicht in Worte – wieder ein Hinweis auf emotionale Unreife –, aber er schien Szenen nachzuspielen, in denen sein Vater seine Mutter mit Faustschlägen und Tritten traktiert hat.«
»Ein Eingreifen der Fürsorge hat es in der Familie nicht gegeben«, sagte Mark und trank seinen Tee aus.
»Richtig«, sagte Dr. Baird, »aber medizinische Berichte bestätigen einige von Sebastians Aussagen.«
»Ich bin ein Einzelkind. Es gab noch ein Baby, aber das ist gestorben. Ich habe meine Hand auf den Bauch meiner Mutter gelegt und gefühlt, wie es sich bewegte. Aber dann ist sie gestürzt und hat etwas Totes zur Welt gebracht.«
»Sebastian beschrieb eine Fehlgeburt – und das recht deutlich –, und Mrs. Croll hat als Folge eines häuslichen Unfalls in der Tat eine Totgeburt im letzten Drittel ihrer Schwangerschaft erlitten«, bestätigte Baird.
Daniel hatte in dem Bericht des Psychologen gelesen, dass Sebastians Gesicht »ausdruckslos« gewesen sei, als er diese Dinge mitteilte, und Baird hatte notiert, dass der Junge »ein kurzes Lutschgeräusch mit dem Mund« machte.
Daniel räusperte sich und blickte zu Mark hinüber, der sich Notizen machte. »Schließlich«, sagte Daniel, »weisen Sie die frühere Asperger-Syndrom-Diagnose von Sebastians Schulpsychologin zurück? Die stand in seinen Schulberichten.«
»Ja, ich habe keine Belege dafür gefunden, dass er an Asperger leidet, allerdings weist er möglicherweise einige Merkmale auf, die mit diesem Krankheitsbild in Verbindung stehen.«
»Und Sie empfehlen regelmäßige Verhandlungspausen?«, fragte Daniel. »Ich denke, das ist der Normalfall, aber ich finde, Sie sollten diesbezüglich eine Aussage machen – stimmen Sie mir zu, Mark?«
Mark nickte eifrig, und sein Adamsapfel hüpfte über seinem Hemdkragen auf und ab.
»Aber natürlich – ein Gerichtsverfahren sollte auf Sebastians Alter und Gefühlslage Rücksicht nehmen. Seine hohe Intelli genz bedeutet, dass Vorgänge, richtig erklärt, gut verstanden werden können, aber regelmäßige Pausen sollten eingelegt werden, um emotionalen Druck zu begrenzen.«
Daniel verabschiedete sich von Mark und fuhr nach Hause. Er schloss die Augen, lehnte sich in der U-Bahn auf seinem Sitz zurück und überließ sich dem Schaukeln und Ruckeln des Wag gons. Er erinnerte sich seiner eigenen Machtlosigkeit, wenn seine Mutter geschlagen wurde, und stellte sich vor, dass Kenneth King Croll die Ursache dafür war, dass Charlotte stürzte und ihr Baby verlor.
In Bow leerte er in der Küche seine Aktentasche, breitete das Croll-Beweismaterial auf dem Tisch aus und machte sich ein Bier auf. Nach dem Abendbrot würde er alles noch einmal durchgehen. Er sah seinen Notizblock vom vorigen Abend mit den Nummern von Harriet MacBryde und Jane Flynn, starrte sie an und überlegte, was er tun sollte. Harriet war wütend auf ihn, und Jane hatte möglicherweise nie von ihm gehört. Er gehörte bei keiner von beiden zur Familie.
Er duschte und wechselte in ein T-Shirt und Jeans. Barfuß trottete er ins Wohnzimmer und nahm das Foto von Minnies erster Familie vom Kaminsims. Er trug es in die Küche und trank sein Bier aus, während er Minnies Gesicht betrachtete. Es leuchtete vor Glück, und seine Haut war noch nicht gegerbt durch die kommenden Jahre im Freien.
Daniel holte tief Luft, griff zum Telefon und wählte Harriets Nummer. Während er auf das ungewöhnlich lange Klingeln lauschte, fühlte er, wie sich seine Brust erwartungsvoll straffte. Er trommelte mit den Fingern leise auf den Tisch, weil er sich nicht überlegt hatte, was er sagen würde. Das Telefon klingelte und klingelte, und als er gerade auflegen wollte, ging
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