Der Schwarm
Menge Leben da unten. Unser Problem ist, dass es jedes Mal zur Seite geht, wenn wir kommen.«
Jetzt wurde der Greifer vom Heckgalgen abgelassen. Johanson wischte sich den Regen aus den Augen und ging ins Monitorlabor. Der Matrose am Windenfahrstand bediente den Joystick, mit dem der Greifer abgesenkt und angehoben wurde. In den letzten Stunden hatte erbereits den Videoschlitten gesteuert, aber er wirkte konzentriert und aufgeräumt. Das musste er auch sein. Stundenlang das blasstrübe Bild des Meeresbodens zu betrachten, konnte hypnotisierende Wirkung haben. Ein unachtsamer Moment, und Geräte im Kostenrahmen von Ferraris blieben für alle Zeiten unten.
Drinnen herrschte Dämmerlicht. Die Gesichter der Umstehenden und Sitzenden leuchteten fahl im Licht der Bildschirme. Die Welt entrückte vollends. Es gab nur noch den Meeresboden, dessen Oberfläche die Wissenschaftler studierten wie eine chiffrierte Landschaft, in der jede Einzelheit Aussagen über alles traf, multicodierte Botschaften, Gottes verschlungene Sprache.
Draußen am Heckgalgen rauschte der Greifer abwärts.
Das Wasser schien aus den Monitoren spritzen zu wollen, dann sank das stählerne Maul durch Planktonregen. Es wurde blaugrün, grau, schwarz. Helle Punkte schossen seitlich weg wie Kometen, winzige Krabben, Krill, Undefinierbares. Die Reise des Greifers mutete an wie der Vorspann zu alten Star-Trek -Folgen, nur fehlte die Musik. Im Labor herrschte Totenstille. Der Tiefenmesser lief rasend schnell durch. Dann plötzlich kam Meeresboden ins Bild, der ebenso gut Mondoberfläche hätte sein können, und die Winde stoppte.
»Minus 714«, sagte der Matrose am Joystick.
Bohrmann beugte sich vor: »Noch nicht.« Muscheln zogen durchs Bild, wie sie mit Vorliebe auf Gashydraten siedelten. Die meisten von ihnen waren unter sich aufbäumenden, zuckenden rosa Leibern verschwunden. Johanson beschlich der Gedanke, dass die Würmer nicht nur ins Eis vordrangen, sondern auch die Muscheln in ihren Schalen fraßen. Er sah deutlich, wie die zangenbewehrten Rüssel hervorschossen, Stücke aus dem Muschelfleisch rissen und ins Innere der schlauchförmigen Körper beförderten. Vom weißen Methaneis war nichts auszumachen unter der kriechenden Belagerung, aber jeder im Raum wusste, dass es dort war, direkt unter ihnen. Überall stiegen Blasen auf und schwemmten kleine schimmernde Brocken nach oben, Hydratsplitter.
»Jetzt«, sagte Bohrmann.
Der Boden raste auf die Kamera zu. Kurz schien es, als bäumten sich die Würmer auf, um den Greifer in Empfang zu nehmen. Dann wurde alles schwarz. Das stählerne Maul presste sich ins Methan und schloss sich langsam.
»Was zum Teufel ... ?«, zischte der Matrose.
Über die Kontrollanzeige der Winde liefen Zahlen. Blieben stehen, liefen weiter.
»Der Greifer sackt weg. Er bricht durch.«
Hvistendahl drängte sich nach vorn. »Was passiert denn da?«
»Das gibt's doch nicht. Da unten ist überhaupt kein Widerstand mehr.«
»Hoch damit«, schrie Bohrmann. »Schnell.«
Der Matrose zog den Joystick zu sich heran. Die Anzeige stoppte, dann lief sie rückwärts. Der Greifer fuhr hoch, das Maul geschlossen. Die Außenkameras zeigten ein riesiges Loch, das plötzlich entstanden war. Dicke, tanzende Blasen stiegen daraus empor. Dann wölbte sich eine gewaltige Menge Gas hinterher. Es schoss auf den Greifer zu, hüllte ihn ein, und plötzlich verschwand alles in einem kochenden Wirbel.
Grönländische See
Einige hundert Kilometer nördlich vom Standort der Sonne hatte Karen Weaver eben aufgehört zu zählen.
50 Runden um das Schiff. Jetzt lief sie einfach weiter, deckauf, deckab, darauf bedacht, den wissenschaftlichen Betrieb nicht zu stören. Ausnahmsweise passte es ihr gut, dass Lukas Bauer keine Zeit für sie hatte. Sie brauchte Bewegung. Am liebsten hätte sie Eisberge bestiegen oder sonst was unternommen, um ihren Überschuss an Adrenalin abzubauen. Viel konnte man an Bord eines Forschungsschiffs nicht tun. Im Kraftraum war sie gewesen und hatte sich an den drei läppischen Maschinen zu Tode gelangweilt, also lief sie. Deckauf, deckab. Vorbei an Bauers Assistenten, die den fünften Drifter vorbereiteten, vorbei an den Matrosen, die ihrer Arbeit nachgingen oder zusammenstanden und ihr hinterhersahen, wahrscheinlich mit anzüglichen Kommentaren auf den Lippen.
Vor ihrem halb geöffneten Mund bildeten sich in regelmäßiger Folge weiße Wolken.
Deckauf, deckab.
Sie musste an ihrer Ausdauer arbeiten. Ausdauer war ihr
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