Der Schwarm
Gesichtern.
Er blieb stehen und sah ihnen nach.
Plötzlich kam ihm die Idee, alles sei gesteuert, gar nicht mehr so abwegig vor.
Vor Svalbard, Spitsbergen, Grönländische See
Auf dem Wasser lag das Mondlicht.
Es war ein Anblick, der die Mannschaft an Deck trieb, so atemberaubend schön präsentierte sich das Eismeer in dieser Nacht. Selten sah man es so, aber Lukas Bauer bekam nichts davon mit. Er saß in seiner Kammer über seinen Unterlagen und kam sich vor wie jemand, der die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen sucht, nur dass der Heuhaufen die Größe zweier Meere besaß.
Karen Weaver hatte ihre Sache gut gemacht und ihn wirklich entlastet, aber vor zwei Tagen war sie im spitsbergischen Longyearby von Bord gegangen, um dort Recherchen anzustellen. Sie führte ein unruhiges Leben, wie Bauer fand, obschon sein eigenes nicht eben ruhiger verlief. Als Wissenschaftsjournalistin hatte sie sich vor allem auf marine Themen verlegt. Bauer vermutete, dass Weavers Berufswahl einzig dem Umstand zu verdanken war, dass sie auf diese Weise kostenlos in die unwirtlichsten Regionen der Welt reisen konnte. Sie liebte das Extreme. Darin unterschied sie sich von ihm, der das Extreme von Herzen verabscheute, jedoch von solchem Forscherdrang besessen war, dass ihm Erkenntnis über Bequemlichkeit ging. Viele Forscher waren so. Missverstanden als Abenteurer, nahmen sie das Abenteuer in Kauf, um in den Besitz von Wissen zu gelangen.
Bauer vermisste einen bequemen Sessel, Bäume und Vögel und ein frisch gezapftes deutsches Bier. Vor allem aber vermisste er Weavers Gesellschaft. Er hatte das störrische Mädchen ins Herz geschlossen, undaußerdem begann er, den Sinn und Zweck von Pressearbeit zu begreifen – dass man sich, wenn man eine breite Öffentlichkeit für die eigene Tätigkeit interessieren wollte, auf ein vielleicht nicht hoch präzises, dafür jedoch verständliches Vokabular verlegen musste. Weaver hatte ihm klargemacht, dass viele Menschen seine Arbeit schon darum nicht verstehen würden, weil sie gar nicht wussten, wie und wo der Golfstrom entsprang, um den sich alles drehte, was er in diesen Tagen unternahm. Er hatte das nicht glauben können. Er hatte auch nicht glauben können, dass keiner wusste, was ein Autarker Drifter war, bis Weaver ihn davon überzeugte, dass es kaum jemand wissen konnte, weil Drifter viel zu neu und zu speziell waren. Das hatte er schließlich akzeptiert. Aber der Golfstrom! Was lernten die Kinder bloß in der Schule?
Doch Weaver hatte Recht. Schließlich wollte er die Öffentlichkeit gewinnen, um sie teilhaben zu lassen an seiner Sorge, und um den Verantwortlichen Druck zu machen.
Und Bauer sorgte sich sehr.
Seine Sorge entsprang im Golf von Mexiko. Dorthin strömte entlang der südamerikanischen Küste und vom Süden Afrikas her warmes Oberflächenwasser. In der Karibik wurde es aufgeheizt und floss weiter nach Norden. Einladend warmes Wasser, zwar ziemlich salzig, aber weil es so warm war, blieb es an der Oberfläche.
Dieses Wasser bildete Europas Fernheizung, den Golfstrom. Bis Neufundland wälzte er sich und transportierte dabei eine Milliarde Megawatt Wärme, was der thermischen Leistung von 250000 Kernkraftwerken entsprach, wo ihm der kalte Labradorstrom in die Seite fiel und ihn auflöste. Dabei wurden sogenannte Eddies abgeschnürt, kreisende, warme Wassermassen, die weiter nach Norden trieben, nun Nordatlantische Drift genannt. Westwinde sorgten dafür, dass reichlich Wasser verdunstete, was Europa ergiebige Regenfälle bescherte und zugleich den Salzgehalt in die Höhe trieb. Die Drift zog weiter die norwegische Küste hoch, firmierte dort als Norwegenstrom und brachte immer noch genug Wärme in den äußersten Nordatlantik, dass Schiffe selbst im Winter Südwestspitsbergen anlaufen konnten. Erst zwischen Grönland und Nordnorwegen endete der Wärmezufluss. Hier stieß der Norwegenstrom alias Nordatlantische Drift alias Golfstrom auf eiskaltes Arktiswasser, das ihn, unterstützt von kalten Winden, rapide abkühlte. Das ohnehin sehr salzige, nun auch sehr kalte Wasser wurde schwer und sackte ab. So schwer wurde es, dass seine Massen steil in die Tiefe stürzten. Das geschah nicht auf ganzer Front, sondern in Kanälen, sogenannten Schloten, die je nach Wellengang ihre Positionwechselten und darum nicht auf Anhieb zu finden waren. Sinkschlote hatten einen Durchmesser zwischen 20 und 50 Metern. Etwa zehn von ihnen kamen auf einen Quadratkilometer, aber wo genau sie
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