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Der schwarze Atem Gottes

Der schwarze Atem Gottes

Titel: Der schwarze Atem Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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vertreiben. Er hatte es aufgegeben, Federlin Fragen zu stellen, und betete inständig darum, in der Gegenwart dieses rätselhaften Gesellen nicht seine Seele aufs Spiel zu setzen. Einmal noch hatte er versucht, während einer nächtlichen Ruhepause zu fliehen, doch der Gaukler hatte ihn sofort eingeholt. Nun war der Pater trotz seiner Angst beinahe neugierig darauf, was er beim nächsten Halt erfahren mochte.
     
    Der Turm verjüngte sich nach oben hin; wie ein Pfeil schoss er in den Himmel, und es hatte den Anschein, als berühre er die tief hängenden Wolken. Ein so seltsames Bauwerk hatte Hilarius noch nie zuvor gesehen.
     
    Die Landschaft war lieblicher geworden; die schroffen Grate und tannenfinsteren Schluchten waren sanften Hügeln und lichten Laubwäldern gewichen. Noch immer ließ sich die Sonne nicht blicken. Wolkengebirge zogen über den Himmel, brachten aber kaum Regen. Der Frühling war hier sehr viel zaghafter und frischer als zu Hause im Fränkischen, nach dem sich Hilarius so sehr zurücksehnte. Nie wieder wollte er auch nur eine einzige Hexe überführen, nie wieder wollte er mit den höllischen Mächten kämpfen, sondern sein Leben der Kontemplation und der tätigen Nächstenliebe weihen, wenn er nur heil aus diesem Albtraum herauskäme. Er hatte schon zu lange in das Antlitz des Teufels geblickt.
     
    Aus der Nähe wirkte der Turm erstaunlicherweise weniger beeindruckend. Er erhob sich auf einer sanften, grasbewachsenen Hügelkuppe, auf der nicht ein einziger Baum stand. Federlin lenkte das Pferd vor eine schwere, verschlossene Holztür. Als sie gerade abgestiegen waren, öffnete sich diese Tür, und ein alter Mann mit dichtem, weißem Bart und unangenehm eindringlichem, neugierigem Blick trat hinaus. Auf dem Kopf trug er eine seltsame Kappe, deren Flügel bis über die Ohren hingen.
     
    »Da seid ihr ja«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Habt Massel gehabt, ja?«
     
    »Wir sind gekommen, um uns von eurer Weisheit erleuchten zu lassen«, sagte Federlin und schob Hilarius vor sich her und auf das Tor zu. »Das hier ist der, der euch als Vorläufer versprochen wurde.«
     
    »Ei, welche Freude!« Der alte Mann lächelte Hilarius an und zupfte sich am Bart. »Eine solche Freude haben wir in unserem Turm noch nie gehabt. Den Vater unseres Messias kennenlernen zu dürfen!« Der Alte kniete sich vor Hilarius und küsste den Saum seiner Kutte. »Kommt doch bitte herein.« Er stand mit zitterigen Bewegungen auf und ging voraus. Federlin und Hilarius folgten ihm in das Innere des Turmes.
     
    Das Tor schlug mit schrecklicher Endgültigkeit hinter ihnen zu.
     
    Das, was der Alte gesagt hatte, erregte Hilarius. Er konnte es nicht glauben – aber ein Teil von ihm wollte es glauben. »Unseres Messias?« Es erinnerte ihn an das, was der Graf ihm bei seinem erzwungenen Aufenthalt in der Burg eröffnet hatte. Die Juden erwarteten den Messias. War dieser Alte etwa ein Jude? Natürlich! Der alttestamentliche Bart, die seltsame Kappe … Hilarius schüttelte sich. Diese Geschöpfe waren ihm zuwider!
     
    Der alte Mann führte sie durch einen gewundenen Korridor, einige Wendeltreppen sowie etliche Zimmer, die allesamt mindestens eine gerundete Wand hatten, und schließlich betraten sie einen völlig runden Raum, der knapp unter der Turmspitze liegen musste. »Bitte setzt euch«, sagte er und deutete auf einen Kreis aus sechzehn schmucklosen Stühlen; dann verließ er den Raum wieder.
     
    Als sie sich nebeneinander niedergelassen hatten, fragte Hilarius: »Sind das etwa Juden?«
     
    »Ja«, antwortete Federlin. »Hast du etwas gegen sie?«
     
    »Sie sind … sie sind …« Hilarius fand einfach nicht die richtigen Worte zur Verdeutlichung seines Abscheus gegenüber diesen Kreaturen.
     
    »Was sind sie?«, fragte Federlin und sah Hilarius fest an.
     
    »Sie … sie …« Weiter kam der Pater nicht. Nun betraten insgesamt vierzehn Männer den runden Raum und nahmen schweigend auf den anderen Stühlen Platz. Hilarius ließ den Blick von einem zum anderen schweifen. Sie alle trugen die gleichen Bärte, die gleichen Kappen, die gleichen schwarzen Gewänder. Als sie bemerkten, dass er sie anstarrte, tuschelten sie miteinander in einer Sprache, von der er nur Brocken verstand. Das musste das Jiddische sein. Wortseim! Ekelhaft. Schließlich sagte der Alte, der sie vorhin am Tor begrüßt hatte, zu Hilarius: »Meine Brüder und ich heißen dich ganz herzlich in unserem Turm der Erleuchtung und des Verständnisses

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