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Der schwarze Atem Gottes

Der schwarze Atem Gottes

Titel: Der schwarze Atem Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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zu einem schlichten, braun verputzten Bau, in dem sich die Unterkünfte für die Gäste des Klosters befanden.
     
    Das Haus war innen so schmucklos wie außen. Hilarius erhielt eine Zelle mit weiß gekalkten Wänden zugewiesen, in der sich ein Bett, ein Betschemel und ein Tisch mit einem Stuhl davor befanden. Über dem Bett hing ein kleines, schwarzes Kreuz. In die Wand gegenüber war ein winziges, verglastes Fenster eingelassen. Als Hilarius sich noch umsah, sagte der Pförtner: »Ich hoffe, es gefällt dir. Von hier aus hast du einen guten Blick auf die Barmherzigengasse. Da ist immer etwas los, denn da drüben, fast genau deinem Fenster gegenüber, wohnt ein Pfandleiher. Und manchmal kommen hohe Herren aus den Christenstädten her. Sie versuchen, heimlich zu sein, aber nichts bleibt vor Gottes und unseren Augen verborgen, nicht wahr?« Er zog das rechte Augenlid mit dem Finger so weit herunter, dass Hilarius das Rote unter dem Augapfel sehen konnte. Dann ließ der Pförtner das Lid wieder nach oben schnellen und fuhr fort: »Immer wenn die Schulden der Adligen zu hoch geworden sind, gibt es eine Judenverfolgung. Geschieht diesem gottverfluchten Pack doch recht! Warum mussten sie denn unseren Heiland und Messias ans Kreuz nageln?« Er spuckte angewidert aus. »Und etwas weiter rechts gibt es ebenfalls etwas Interessantes. Siehst du dieses gelbe Haus mit dem verwitterten Messingschild?«
     
    Hilarius schaute widerwillig aus dem Fenster und nickte kurz.
     
    »Das ist ein Goldschmied. Meneles heißt er, Aaron Meneles. Er hat das erste Stockwerk an ein Frauenzimmer namens Rivka – das ist die Kurzform für Rebekka – Geronim verkauft. Fünfhundert Schock Meißner Groschen hat sie dafür bezahlt! Sie ist reich, die Kleine, denn sie holt sich das Geld aus dem Gemächt der Männer. Bei ihr kann man sich Erleichterung verschaffen, wenn die Natur allzu sehr drängt, du verstehst? In der Hampasgasse gibt es übrigens noch mehr von ihnen, aber diese hier ist so angenehm nah – und so wunderschön. Wie Milch und Honig! Viele von uns gehen zu ihr, denn sie ist schließlich nur eine Jüdin, und deshalb ist es keine Sünde. «
     
    Nur eine Jüdin! Nur ein Jude! Hilarius spürte, wie Ekel in ihm hochstieg. Ekel vor sich selbst. Aber auch Ekel vor diesem Bruder Pförtner.
Warum denn?,
hallte eine laute Stimme in ihm.
Nur weil er mit seinen Worten und Taten die Juden beleidigt? Weil er dein Volk beleidigt? Weil er damit dich selbst beleidigt, ohne es zu wissen?
     
    »Gleich ist es so weit. Wenn du das Glöckchen hörst, komm herüber zur Sext in die Kirche.« Er verließ das Zimmer. Hilarius war es, als verlasse damit auch eine schwarze Wolke den kleinen, klaren Raum.
     
    Noch immer schlief sein Zwilling. Der Pater war sehr dankbar dafür, denn die Gedanken des wachen zweiten Kopfes waren unerträglich. Er verfluchte die Kabbalisten, die ihn belebt hatten, und er verfluchte sich selbst. Er war verflucht. War diese Stadt, dieses Ghetto, seine Bestimmung? Warum floh er nicht einfach, warum lief er nicht weg?
     
    Weil er glaubte, was er nicht glauben wollte.
     
    Als er das helle, blechern klingende Glöckchen hörte, begab er sich nach unten und schritt schnell über den matschigen Innenhof zur Kirche.
     
    Es war ein einfaches Gotteshaus mit nur wenig Schmuck. Das rußgeschwärzte Kreuzrippengewölbe hing tief wie ein Gewitterhimmel über dem Chor und dem Langhaus. Hilarius lief durch den Mittelgang und nahm mit den anderen Mönchen im Chorgestühl Platz, das auch schon bessere Zeiten gesehen hatte. Es war gesplissen, abgegriffen und mit vielen unbeholfen eingeritzten Initialen und kleinen Bildern verunziert.
     
    Als der Gesang einsetzte, erwachte der zweite Kopf des Paters unter der Kutte. Hinter den singenden und betenden Mönchen sah er den schwarzen Stoff seiner eigenen Kutte. In seinen zweiten Ohren klang der Gesang schauerlich falsch, und mit seinem zweiten Geist sah er durch die Verkleidung der Mönche: Er sah Schweine, Bären, Schlangen, Ziegen und Katzen im Chorgestühl hocken. Und seine fremden Gedanken ergötzten sich an den Strafen, die sie für ihr gottungefälliges, weltliches und geiles Leben später einmal erleiden mussten: Er sah, wie der Abt mit schweren, ölig glänzenden Ketten an vier Stangen angebunden wurde und sich diese Stangen dann wie von Geisterhand auseinanderbewegten, bis der schreiende Abt schließlich zerrissen wurde und Fleisch, Blut und Stofffetzen durch das unterirdische Gewölbe flogen.

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