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Der schwarze Atem Gottes

Der schwarze Atem Gottes

Titel: Der schwarze Atem Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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Ein Wesen mit Nägeln im Kopf stand daneben und stöhnte lustvoll.
     
    Hilarius versuchte, diese Gedanken zu vertreiben. Doch sofort kam eine neue Welle. Sie zeigte die Bestrafung jener Mönche, die allzu oft die Dienste der schönen und willigen Rivka angenommen hatten. Er sah nicht nur ihre Folterqualen; er spürte sie auch.
     
    Die Noten in dem Antiphonar, das aufgeschlagen vor ihm lag, verschwammen. Der Gesang des Paters stockte. Die anderen beeilten sich, ihre eher gekrächzten als gesungenen Gebete hinter sich zu bringen, und einige schauten Hilarius neugierig und abschätzend an. Schließlich war der dünne Gesang verhallt, und die Mönche huschten wie an einer Kordel gezogen durch eine Tür in der Nordseite des Chors hinaus in den Kreuzgang. Hilarius schloss sich ihnen an. Er hatte Hunger.
     
    Im Refektorium verhielten sich die Mönche nicht ganz so, wie es ihnen die Regel des heiligen Benedikt gebot. Sie missachteten das Schweigegebot und schwatzten – wenn auch leise – miteinander, und manche lachten sogar. Hilarius konnte kaum die Stimme des Vorlesers hören, der einen Text aus der Apokalypse vortrug.
     
    »Beinahe schaurig genug, um einem den gottgegebenen Appetit zu verderben«, sagte der Mönch, der rechts von Hilarius saß, zu ihm. Der redselige Mönch machte jedoch nicht den Eindruck, als leide sein Appetit unter der Lectio. Er schaufelte sich mit den Händen Unmengen von grünen Bohnen in den weit aufklaffenden Mund, der mehr Zahnlücken als Zähne aufwies; dann schnitt er sich ein Stück fetten Bratens ab und schickte ihn auf denselben Weg wie das Gemüse. Schließlich spülte er mit einem gewaltigen Schluck Weißwein aus einem großen silbernen Humpen nach. Dann beugte er sich zu Hilarius herüber und sagte mit noch nicht ganz leerem Mund:
     
    »Ich mag diese Stelle nicht. Offenbarung, 11. Kapitel, Vers sieben folgende. Pah. Das Tier, das aus dem Abgrund heraufsteigt … Der Antichrist, wie du weißt. Und die Leichen, die dann auf den Straßen der großen Stadt herumliegen … Man könnte glauben, Johannes habe das Prag unserer Tage gekannt.«
     
    »Ist es so schlimm hier?«, fragte Hilarius, nachdem er den Mund geleert hatte. Er wusste nicht, was für eine Antwort er erwartete.
     
    »So schlimm?« Der Bruder wurde laut und fing sich dafür einen sengenden Blick vom Lektor ein, der inzwischen bei der siebten Posaune und der Ankündigung des Endkampfes angelangt war. Leiser fuhr der Bruder fort: »Noch viel schlimmer. Ganz Prag scheint gegenwärtig unter einem Leichentuch des Schreckens zu liegen! Und hier in der Judenstadt ist es am schlimmsten. Überall nehmen die Zaubereien in entsetzlichem Maße zu. Die Hexen werden übermächtig; erst vor Kurzem hat man wieder eine ihrer Versammlungen zerstreut und die Anführer festgenommen. Und es vergeht kein Tag, an dem man nicht von Tod und Wahnsinn erfährt – alles ein Werk der bösen Mächte. Wenn du bei uns bleiben willst, Hexenschnüffler, wären wir sehr froh darüber. Hier gibt es Arbeit für dich im Übermaß. Hast ja doch keinen Ort mehr, an den du zurückkehren könntest.«
     
    Wie wahr , dachte Hilarius. Wie schrecklich wahr! Keine räumliche Heimat mehr und auch keine geistige .
     
      
    Am Abend, nach der Vesper und dem Abendmahl, erhielt Hilarius Besuch von Federlin. Sie trafen sich im Parlatorium, in dem zunächst einer der Mönche demonstrativ anwesend blieb, doch nachdem er lediglich Belanglosigkeiten gehört hatte, ging er schließlich. Vorher warf er dem Gaukler einen Blick zu, der Hilarius nicht entging. In diesem Blick lag eine unglaubliche Ehrfurcht, gepaart mit Unverständnis. Oder war es nur Hilarius’ Zwilling, der diesen Blick so auffasste?
     
    »Hast du etwas herausgefunden?«, fragte Hilarius leise. Sie saßen einander gegenüber an einem der Tische, die entlang der Wände standen. Hilarius hatte sich so gesetzt, dass er einen Blick aus den hohen Spitzbogenfenstern auf die efeuüberwachsene Mauer werfen konnte.
     
    »Nicht viel«, gab Federlin zu. »In der Herberge, in der ich ein Zimmer genommen habe, redet man viel von den bösen Mächten, die Prag fest im Griff haben sollen. Man erzählt sich in den Gassen der Judenstadt hinter vorgehaltener Hand von schrecklichen kabbalistischen Experimenten, aber niemand weiß wirklich, was dabei herausgekommen ist, noch wer sie durchgeführt hat. Wir müssen uns beeilen, wenn wir dem Grafen zuvorkommen wollen.«
     
    »Wollen wir das wirklich?«, fragte Hilarius. »Oder

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