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Der schwarze Atem Gottes

Der schwarze Atem Gottes

Titel: Der schwarze Atem Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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Zeit«, drängte der andere Martin.
     
    »Warum soll ich überhaupt von hier fortgehen? Hör doch: Die Amsel singt wieder!«
     
    »Sie hat den Wurm verschlungen.«
     
    »Der Abend ist so still und golden.«
     
    »Er ist traumvergoldet.«
     
    »Ich liebe diesen Ort. Ich will hierbleiben. Für immer.«
     
    »Wenn du nicht mitkommst, wirst du tatsächlich für immer an diesem Ort bleiben, aber die Vergoldung wird abblättern, und was du dann siehst, wird dir nicht gefallen.« Die Stimme des anderen Martin wurde immer drängender.
     
    Was für ein seltsamer Traum! Ich will ihn nicht aufgeben, indem ich aus diesem abendlichen Wald verschwinde,
dachte Martin. »Was erwartet mich da draußen?«
     
    »Die Suche nach der Pforte der Sefiroth. Die Suche nach dem schwarzen Atem Gottes. Die Suche nach der Hoffnung.«
     
    »Was geht mich das alles an?« Martin sah sich um. Nein, dieser Hain war für ihn die Hoffnung, er war der Friede; Martin brauchte nichts anderes mehr.
     
    »Wenn der schwarze Atem Gottes nicht mehr weht und die Gefahr abgewehrt ist, dass der Antichrist in die Welt tritt, könntest du aus deiner Hölle heraustreten.«
     
    »Aus welcher Hölle?«, fragte Martin und zeigte mit der Hand in einem Halbkreis auf den friedlichen Wald.
     
    Der andere Martin wiederholte die Geste ein wenig zeitversetzt und sagte: »Aus dieser Hölle.«
     
    Die Blätter fielen von den Bäumen ab, und während sie fielen, wurde sie zu kleinen, platten Gesichtern, die lang gezogene, leise, gequälte Seufzer ausstießen. Die Stämme wurden zu glänzenden Eisenpfeilern, an denen die Zweige nichts als rostige Ketten waren, die zerrissene Körperglieder festhielten. Die Glieder zuckten noch und wanden sich in irrer Pein. Der Boden bestand aus unzähligen, weit geöffneten Schlünden, die Schwefelatem ausstießen; das war der Abendnebel gewesen, den Martin gesehen hatte. Martin stand auf einer Brücke, die fast so schmal wie die Klinge eines Messers war.
     
    »Wo ist dein Himmel nun?«, fragte der andere Martin. Der Spiegel, in dem er steckte, schwebte in einiger Entfernung vor Martin in der Luft. Lodernde und flackernde Feuersäulen riefen rote Reflexe in ihm hervor. »Komm endlich, bevor es zu spät ist.« Der andere Martin streckte wieder den Arm aus, und diesmal durchdrang er das Spiegelglas und schwebte wartend in der feuerdurchzuckten Dunkelheit. Martin ergriff die Hand und spürte, wie er in den Spiegel gezogen wurde.
     
    Alles nur ein Traum.
     
    Und genauso plötzlich wie in einem Traum änderte sich die Umgebung. Es herrschte noch immer Dunkelheit, doch gleichzeitig konnte Martin den Weg sehen, auf dem er hinter seinem Doppelgänger herschritt. Sie liefen auf großen Steinplatten, die beinahe nahtlos aneinandergefügt waren. Doch außer diesem gepflasterten Weg war nichts in der Dunkelheit zu sehen. Es gab nur den Weg, aber nirgendwo ein Ziel.
     
    Der Weg machte unerklärliche Biegungen, denn es war nichts zu erkennen, was diese Biegungen veranlassen mochte. Mehr als einmal wollte Martin seinen forsch voranschreitenden Doppelgänger am härenen Gewand zupfen und ihm Fragen stellen, doch immer, wenn er glaubte, nahe genug an ihn herangekommen zu sein, lief der andere einen Schritt schneller. Martin hastete keuchend hinterher.
     
    Von irgendwoher stahlen sich matte Lichtstrahlen auf den Weg; sie durchschnitten die Dunkelheit wie das Messer einen festfleischigen Braten. Schließlich blieb der andere Martin stehen.
     
    Die Strahlen verloren ihre Schärfe; sie faserten an den Rändern aus und zogen erste Umrisse aus der Finsternis.
     
    Ein Haus. Ein Haus mit hohem Giebel. Dahinter ein Tor. Ein Stadttor? Es stand offen. Der andere Martin setzte sich wieder in Bewegung. Er lief durch das Tor. Martin folgte ihm.
     
    Hinter dem Tor erstreckte sich eine kopfsteingepflasterte Gasse, über die sich die Häuser schmalbrüstig, aber hoch wölbten, sodass beinahe ein Hohlweg entstand. Hinter sehr wenigen Fenstern war das unsichere Leuchten einer kleinen Kerze oder eines Kienspans zu sehen. Doch die Häuser warfen einen Schatten. Einen Mondschatten. Der schmale Strich hoch oben zwischen den Giebeln war helle Nacht, durch die nur wenige Wolken zogen. Die Schritte der beiden nächtlichen Läufer hallten hohl von den fleckigen Wänden der ärmlichen Häuser wider. Dann blieb der Doppelgänger ein zweites Mal stehen. Er drehte sich um.
     
    Martin blickte in Federlins Gesicht, in Federlins verschiedenfarbige Augen. Diese Augen

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