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Der schwarze Atem Gottes

Der schwarze Atem Gottes

Titel: Der schwarze Atem Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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auf dem weichen Waldboden, er roch die nassen Stämme, das faulende Holz.
     
    Fern im Westen ging die Sonne unter. Bodennebel stiegen auf und legten sich wie ein hauchdünner Schleier über das dunkle, stählerne Blau des Himmels. Der Tag, das Jahr neigten sich. Irgendwo raschelte etwas im Laub. Martin schaute hin und sah eine Amsel – dieselbe, die vorhin ihr Lied gesungen hatte? Sie zerrte einen Wurm aus der fetten Erde hervor. Dann hüpfte sie mit ihrer Beute davon.
     
    »Das Lied der Amsel ist für den Menschen schön«, sagte Hilarius, »aber nicht für den Wurm.« Seine Bauchwölbung war verschwunden; nun war er so mager, wie es sein verhärmtes Gesicht andeutete. »Jede Schönheit ist relativ. Es gibt keine objektive Schönheit. Und genauso wenig gibt es eine objektive Wirklichkeit.«
     
    Martin spürte, wie eine klamme Kälte unter seine Kutte kroch. Weit im Westen, am Horizont, erstreckte sich ein dunkler Tannenwald, der nun, da die Sonne ihn berührte, aufzuglühen schien. Hier, zwischen den lichten Birken, flossen die ersten Schatten umher.
     
    »Ich weiß, dass du den Herbst liebst«, sagte Hilarius, »aber der Herbst ist ein Bild für die Ahnung des Todes. All das Friedliche, Ruhende um dich herum ist ein Ruhen und ein Friede zum Tode. Es ist das letzte Atemholen vor dem großen Sprung.« Dann drehte sich Hilarius um und ging geradewegs in die Schatten hinein.
     
    Martin sah ihm nach, bis der Pater mit einer der Birken verschmolz. Dann streifte Martin ein wenig in dem lichten Wäldchen umher und war froh, dass er allein war. Allein mit sich selbst. Wie lange war er das schon nicht mehr gewesen! Ganz fern erinnerte er sich an sein Leben im Kloster, das ihm immer so ruhig und fest erschienen war. Aber das Alleinsein hatte er vermisst.
     
    Zwischen zwei nahe beieinanderstehenden Birken sah er ein Glitzern. Er rieb sich die Augen, aber das Glitzern verschwand nicht. Er ging näher heran.
     
    Die Birken waren wie die Pfosten einer Pforte, und zwischen ihnen zwinkerte es ihn an. Es waren die letzten Strahlen der verlöschenden Sonne, die in diesem Geviert spielten. Und gleichzeitig war es wie ein Irrlichtern, wie Glühwürmchen, die er vor wenigen Jahren zum ersten Mal gesehen und sie für die tanzenden Augen des Teufels gehalten hatte. Endlich begriff er, dass sich zwischen den beiden Birken ein Spiegelglas befand.
     
    Ein Spiegel mitten im Wald? Aber ja, er träumte doch. Doch nicht nur die Strahlen der Sonne geisterten durch den Spiegel; da war noch mehr in ihm. Je näher Martin heranging, desto deutlicher sah er eine menschliche Gestalt darin. Aber natürlich: Es musste seine eigene sein. Wie dumm von ihm. Sein Geist war einfach zu traumbenommen. Er lachte.
     
    Die Gestalt in dem Spiegel lachte nicht.
     
    Sie sah genauso aus wie Martin. Verwirrt schaute er an sich herab – genau wie die Gestalt in dem Spiegelglas: Beide trugen sie eine grobe Kutte ohne Gürtel oder Strick – das Büßergewand. Dann sah Martin wieder in den Spiegel.
     
    Der andere Martin lächelte ihn an.
     
    Martin erinnerte sich an sein Erlebnis in dem Labyrinth des Zauberers Laurenz Hollmann. Der andere Martin sagte: »Es ist unwichtig, ob etwas in der äußeren Welt existiert oder nicht. Wichtig ist nur, ob es in der inneren Welt existiert. Und nun komm.«
     
    »Wohin?« Was war das für ein neuer Teufelsspuk? Unterhielt er sich wirklich mit seinem Spiegelbild?
     
    »Dorthin, wo du hinwillst.« Der andere Martin streckte den Arm aus. Aber natürlich blieb er in dem Spiegelglas stecken.
     
    »Wer sagt mir, dass du nicht der Teufel bist, der mich verderben will?«, fragte Martin argwöhnisch und überkreuzte die Arme vor der Brust. »Oder hat der Teufel in einem Traum keine Macht?«
     
    »Er hat im Traumleben genauso viel Macht wie im wachen Leben, denn beide Leben stehen gleichberechtigt nebeneinander.«
     
    »Warum sollte ich also dir vertrauen und mit dir gehen?«
     
    »Wenn du mir nicht mehr vertraust – das heißt, wenn du dir selbst nicht mehr vertraust –, dann bist du verloren.«
     
    »Du willst mich verführen.«
     
    »Ich will dich retten, so wie es dein eigener Wille ist.« Der Spiegelmartin ließ den Arm wieder sinken.
     
    So standen sie eine Zeitlang einander gegenüber, getrennt durch die harte und kalte Oberfläche eines Spiegels mitten in dem lichten Birkenhain. Inzwischen war die Sonne untergegangen, und das Bild im Spiegel wurde mit jeder Sekunde undeutlicher.
     
    »Wir haben nicht mehr viel

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